Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
erwarte sie jeden Augenblick zurück. Ich bin ihre Assistentin.« Mit einer schnellen Bewegung schob sie sich die Haare hinter das rechte Ohr.
»Vielen Dank; ich möchte gern Dr. Jeannotte ein paar Fragen stellen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, warte ich.«
»Ahm, oh, na ja. Okay. Ich schätze, das ist okay. Sie ist nur, ich bin mir nicht sicher. Sie läßt niemanden in ihr Büro.« Sie sah mich an, warf einen kurzen Blick durch die offene Tür, sah mich wieder an. »Ich war am Kopierer.«
»Ist schon gut. Ich warte hier draußen.«
»Hm, nein, es könnte noch eine Weile dauern. Sie kommt oft zu spät. Ich…« Sie drehte den Kopf und sah den Korridor entlang. »Sie könnten sich in ihr Büro setzen.« Wieder schob sie die Haare hinters Ohr. »Aber ich weiß nicht, ob ihr das recht wäre.«
Anscheinend war sie unfähig, eine Entscheidung zu treffen.
»Es macht mir nichts aus, hier zu warten. Wirklich.«
Ihr Blick huschte an mir vorbei, dann wieder zu meinen Gesicht. Sie biß sich auf die Unterlippe und strich noch einmal die Haare zurück. In diesem Augenblick wirkte sie nicht einmal alt genug, um eine Studentin zu sein. Sie sah aus wie zwölf.
»Wie war der Name gleich wieder?«
»Dr. Brennan. Tempe Brennan.«
»Sind Sie eine Professorin?«
»Ja, aber nicht hier. Ich arbeite am Laboratoire de Médecine Légale.«
»Ist das die Polizei?« Eine Falte zeigte sich zwischen ihren Augen.
»Nein. Das Gerichtsmedizinische Institut.«
»Ach so.« Sie leckte sich die Lippen, sah dann auf ihre Armbanduhr. Sie war der einzige Schmuck, den sie trug.
»Na, dann kommen Sie rein und setzen Sie sich. Ich bin hier, also dürfte das schon okay sein. Ich war nur kurz am Kopierer.«
»Ich wollte Ihnen keine Umstä…«
»Nein. Kein Problem.« Mit einem Kopfnicken bedeutete sie mir, ihr zu folgen, und betrat das Büro. »Kommen Sie.«
Ich trat ein und nahm auf dem kleinen Sofa Platz, das sie mir zuwies. Sie ging an mir vorbei zum anderen Ende des Zimmers und fing an, Zeitschriften in die Regale zu sortieren.
Ich hörte das Summen eines Elektromotors, konnte aber nirgends die Quelle des Geräusches entdecken. Ich sah mich um. Noch nie hatte ich ein Zimmer gesehen, das so vollgestopft war mit Büchern. Ich überflog die Titel mir direkt gegenüber.
Die Elemente der keltischen Tradition. Die Qumranrollen und das Neue Testament. Die Geheimnisse des Freimaurertums. Schamanismus: Archaische Ekstasetechniken. Rituale des Königtums in Ägypten. Peakes Bibelkommentar. Kirchen, die mißbrauchen. Gedankenreform und die Psychologie des Totalitarismus. Armageddon in Waco. Wenn die Zeit aufhört zu sein: Prophezeiungsglauben im modernen Amerika. Eine eklektische Kollektion.
Die Minuten schleppten sich dahin. Es war unangenehm warm im Büro, an meiner Schädelbasis meldete sich Kopfweh. Ich zog meine Jacke aus.
Hmmm.
Ich betrachtete einen Druck an der Wand. Nackte Kinder, die sich an einer Feuerstelle wärmten, Haut, die im Schein der Flammen glühte. Darunter stand »Nach dem Bad«, Robert Peel, 1892. Das Bild erinnerte mich an eins im Musikzimmer meiner Großmutter.
Ich sah auf die Uhr. Zehn nach eins.
»Wie lange arbeiten Sie schon für Dr. Jeannotte?«
Sie stand über den Tisch gebeugt, richtete sich aber sofort auf, als sie meine Stimme hörte.
»Wie lange?« Verwirrt.
»Sind Sie eine ihrer Doktorandinnen?«
»Examenskandidatin.« Sie stand als dunkle Silhouette im Licht des Fensters. Ihr Gesicht konnte ich nicht erkennen, aber ihre Körperhaltung wirkte angespannt.
»Wie ich gehört habe, gibt sie sich viel mit ihren Studenten ab.«
»Warum fragen Sie mich das?«
Merkwürdige Antwort. »Ich war nur neugierig. Irgendwie bleibt mir nie genug Zeit, um meine Studenten nebenher zu treffen. Ich bewundere sie.«
Das schien sie zufriedenzustellen.
»Dr. Jeannotte ist für viele von uns mehr als nur eine Lehrerin.«
»Wie sind Sie eigentlich zu Religiösen Studien als Hauptfach gekommen?«
Eine Weile antwortete sie nicht. Als ich schon dachte, sie würde es gar nicht mehr tun, sagte sie sehr langsam: »Ich habe Dr. Jeannotte kennengelernt, als ich mich für ihr Seminar einschrieb. Sie…« Noch eine längere Pause. Im Gegenlicht war ihr Gesichtsausdruck kaum zu erkennen. »… hat mich inspiriert.«
»Inwiefern?«
Wieder eine Pause.
»Sie brachte mich dazu, alles richtig machen zu wollen. Zu lernen, wie man alles richtig macht.«
Ich wußte nicht, was ich darauf erwidern sollte, aber diesmal war eine weitere
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