Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
Montreal geboren wurde. Sie war der Meinung, daß Sie mir vielleicht Hinweise auf weiterführende Quellen geben könnten.«
»Schwester Julienne.« Sie lachte noch einmal, ein Geräusch wie Wasser, das über Steine rieselt. Dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. »Es gibt eine Menge, was von den Angehörigen der Familien Nicolet und Bélanger und über sie geschrieben wurde. Unsere eigene Bibliothek hat ein umfangreiches Archiv historischer Dokumente. Ich bin mir sicher, daß Sie dort fündig werden. Sie könnten es außerdem in den Archiven der Provinz Quebec, bei der Kanadischen Historischen Gesellschaft und in den öffentlichen Archiven Kanadas probieren.« Der weiche, südliche Tonfall bekam nun etwas beinahe Mechanisches. Ich war eine Studentin, die für ein Projekt recherchierte.
»Sie könnten in Periodika nachlesen wie dem Report of the Canadian Historical Society, The Canadian Annual Review, The Canadian Archives Report, The Canadian Historical Review, The Transactions of the Quebec Literary and Historical Society, The Report of the Archives of the Province of Quebec oder The Transactions of the Royal Society of Canada.« Sie klang wie ein Tonband. »Und natürlich gibt es Hunderte von Büchern. Ich selbst weiß nur sehr wenig über diese Zeit.«
Anscheinend spiegelten sich meine Gedanken in meiner Miene wider, denn sie fügte hinzu: »Machen Sie nicht so ein erschrockenes Gesicht. Es erfordert einfach nur Zeit.«
Aber die Zeit, um mich durch diese Unmengen von Material zu arbeiten, würde ich nie aufbringen. Ich versuchte eine andere Richtung: »Sie sind vertraut mit den Umständen von Élisabeths Geburt?«
»Eigentlich nicht. Wie gesagt, über diese Periode habe ich nicht gearbeitet. Ich weiß natürlich, wer sie ist, und ich kenne ihre Arbeit während der Pockenepidemie von 1885.« Sie hielt einen Augenblick inne, um sich die nächste Formulierung gut zu überlegen. »Meine Arbeit konzentriert sich auf messianische Bewegungen und neue Glaubenssysteme, nicht auf die traditionellen ekklesiastischen Religionen.«
»In Quebec?«
»Nicht ausschließlich.« Dann wandte sie sich wieder den Nicolets zu. »Die Familie war zu ihrer Zeit sehr bekannt, vielleicht wäre es da für Sie interessanter, alte Zeitschriften durchzusehen. Damals gab es vier Tageszeitungen in englischer Sprache, Gazette, Star, Herald und Witness.«
»Und die sind in der Bibliothek zu finden?«
»Ja. Und natürlich gab es die französische Presse, La Minerve, Le Monde, La Patrie, L’Etendard und La Presse. Die französischen Zeitungen waren nicht ganz so verbreitet und etwas dünner als die englischen, aber soweit ich weiß, veröffentlichen sie alle Geburtsanzeigen.«
An Presseberichte hatte ich überhaupt nicht gedacht. Diese Arbeit schien mir eher zu bewältigen zu sein.
Sie erklärte mir, wo die auf Mikrofilm gespeicherten Zeitungen zu finden waren, und versprach, eine Liste mit weiteren Quellen zusammenzustellen. Eine Weile sprachen wir von anderen Dingen. Offenbar war sie neugierig auf meine Arbeit, und wir verglichen Erfahrungen, zwei Professorinnen in der männlich dominierten Welt der Universitäten. Bald darauf erschien eine Studentin in der Tür. Jeannotte klopfte auf ihre Uhr und hielt fünf Finger in die Höhe, und die junge Frau verschwand.
Wir standen gleichzeitig auf. Ich dankte ihr, zog Jacke, Mütze und Schal an. Ich war schon halb zur Tür draußen, als sie mir noch eine Frage nachrief.
»Haben Sie eine Religion, Dr. Brennan?«
»Ich wurde im römisch-katholischen Glauben erzogen, aber im Augenblick gehöre ich keiner Kirche an.«
»Glauben Sie an Gott?«
»Dr. Jeannotte, es gibt Tage, da glaube ich nicht an den nächsten Morgen.«
Danach setzte ich mich für eine Stunde in die Bibliothek, blätterte in Geschichtsbüchern und suchte in den Registern nach den Namen Nicolet oder Bélanger. Ich fand mehrere Titel, in denen der eine oder der andere auftauchte, und lieh sie mir aus, denn zum Glück stand mir als Gastdozentin der Universität dieses Privileg zu. Es dunkelte bereits, als ich nach draußen trat. Weil es heftig schneite, mußten die Fußgänger entweder auf der Straße gehen oder auf schmalen Trampelpfaden auf dem Bürgersteig, wobei sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzten, um nicht im tieferen Schnee zu versinken. Ich trottete hinter einem Pärchen her, das Mädchen vorneweg, der Junge hintendrein, seine Hände auf ihren Schultern. Die Kordeln an ihren Rucksäcken baumelten hin und her,
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