Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
einem so steilen Hügel. Als ich ausstieg, schwitzte ich trotz der Kälte. Ich sah mir die Abstände zwischen den Stoßstangen an. Mindestens siebzig Zentimeter. Insgesamt.
Das Wetter war nicht mehr so eisig wie noch vor ein paar Tagen, aber der bescheidene Temperaturanstieg hatte auch eine erhöhte Luftfeuchtigkeit mit sich gebracht. Eine Wolke aus kalter, feuchter Luft drückte auf die Stadt, und der Himmel hatte die Farbe alten Zinns. Schneetreiben setzte ein, als ich den Hügel hinunter zur Sherbrooke ging und dann nach Osten abbog. Die ersten schweren, nassen Flocken schmolzen, als sie den Asphalt berührten, die nächsten blieben schon länger liegen. Bald würde es eine geschlossene Schneedecke sein.
Auf der Mansfield stapfte ich hügelan und betrat das McGill-Gelände durch das Westtor. Der Campus lag über und unter mir, die grauen Steingebäude kletterten von der Sherbrooke zur Docteur Penfield den Hügel hoch. Menschen eilten umher, die Schultern eingezogen gegen die feuchte Kälte, Bücher und Pakete vor dem Schnee schützend. Ich ging an der Bibliothek vorbei und hinten um das Redpath-Museum herum. Durch das Osttor verließ ich den Campus wieder, wandte mich nach links und ging die Rue University hoch. Meine Waden fühlten sich an wie nach drei Stunden Skilanglauf. Vor der Birks Hall wäre ich beinahe mit einem großen jungen Mann zusammengestoßen, der mit gesenktem Kopf, Haare und Brille voller Schneeflocken von der Größe von Schmetterlingen, dahintrottete.
Birks Hall mit seinem gotisierenden Gemäuer, den geschnitzten Eichentäfelungen und -möbeln und den riesigen Kathedralenfenstern stammt aus einer anderen Zeit. Es ist ein Ort, der zum Flüstern einlädt und nicht zum Plappern und Notizentauschen wie die meisten anderen Universitätsgebäude. Die Eingangshalle gleicht einer geräumigen Höhle, an den Wänden hängen Porträts würdevoller Männer, die in gelehrter Überheblichkeit auf den Betrachter herabstarren.
Ich stellte meine Stiefel zu der Reihe Fußbekleidung, die matschtropfend auf dem Marmorboden stand, und sah mir die erhabenen Kunstwerke genauer an. Thomas Cranmer, Erzbischof von Canterbury. Gute Arbeit, Tom. John Bunyan, Unsterblicher Träumer. Wie die Zeiten sich ändern. Als ich studierte, wurde ein Träumer, sofern ertappt, aufgerufen und wegen Unaufmerksamkeit getadelt.
Ich stieg eine Wendeltreppe hoch, ging im ersten Stock an zwei Türen vorbei, die in die Kapelle und die Bibliothek führten, und stieg dann weiter in den zweiten. Hier machte die Eleganz der Eingangshalle Spuren des Alterns Platz. Die Farbe blätterte von Wänden und Decke, hier und dort fehlte eine Bodenfliese.
Am Treppenabsatz blieb ich stehen, um mich zu orientieren. Hier war es merkwürdig still und düster. Links sah ich eine Nische, in der eine Flügeltür auf die Kapellenempore führte. Links und rechts der Nische befanden sich zwei Gänge, in die in Abständen hölzerne Türen eingelassen waren. Ich ging an der Kapelle vorbei und bog in den zweiten Gang ein.
Das letzte Büro auf der linken Seiten war offen, aber leer. Auf einem Schild über der Tür stand in zarter Schrift »Jeannotte«. Verglichen mit meinem Büro war dieses Zimmer riesig wie das Oratorium in St. Joseph. Es war lang und schmal und hatte ein glockenförmiges Fenster am entfernten Ende. Durch das bleigefaßte Glas sah ich das Verwaltungsgebäude und die Auffahrt, die zum Strathcona Medical-Dental Complex führte. Der Boden bestand aus Eichendielen, gelb poliert von eifrigen Füßen unzähliger Jahre.
Regale säumten jede Wand, vollgestopft mit Büchern, Zeitschriften, Notizbüchern, Videobändern, Diamagazinen und Stapeln von Seminararbeiten und Kopien. Ein Holzschreibtisch stand vor dem Fenster, eine Computer-Workstation rechts davon.
Ich sah auf die Uhr. Zwölf Uhr fünfundvierzig. Ich war zu früh dran. So schlenderte ich den Gang entlang und betrachtete die Fotos an den Wänden. School of Divinity, Abschlußjahrgänge 1937, 1938 und 1939. Steife Posen. Ernste Gesichter.
Ich war bei 1942 angelangt, als eine junge Frau auftauchte. Sie trug Jeans, einen Rollkragenpullover und ein kariertes Wollhemd, das ihr bis zu den Knien reichte. Ihre blonden Haare waren kinnlang geschnitten, ein dichter Pony reichte ihr bis über die Augenbrauen. Sie trug kein Make-up.
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte sie. Sie legte den Kopf schräg, und der Pony fiel zur Seite.
»Ja. Ich suche Dr. Jeannotte.«
»Dr. Jeannotte ist noch nicht da, aber ich
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