Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
Ermunterung zum Reden gar nicht nötig.
»Sie hat mich zu der Erkenntnis gebracht, daß viele Antworten bereits niedergeschrieben sind und daß wir nur lernen müssen, sie zu sehen.« Sie atmete tief durch. »Es ist schwer, es ist wirklich schwer, aber mit der Zeit habe ich begriffen, was für ein Chaos die Menschen auf dieser Welt angerichtet haben und daß nur einige wenige Erleuchtete…«
Sie drehte sich ein wenig, und ich konnte ihr Gesicht wieder erkennen. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, ihr Mund war angespannt.
»Dr. Jeannotte. Wir haben uns nur unterhalten.«
Eine Frau stand in der Tür. Sie war nur gut einen Meter fünfzig groß und hatte dunkle, straff zurückgekämmte und am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengefaßte Haare. Ihre Haut hatte dieselbe Eierschalenfarbe wie die Wand hinter ihr.
»Ich war eben am Kopierer. Ich habe das Büro nur für ein paar Sekunden verlassen.«
Die Frau blieb absolut still.
»Sie war nicht allein hier drin. Ich hätte das nie zugelassen.« Die Studentin biß sich auf die Lippen und senkte den Blick.
Daisy Jeannotte verzog keine Miene.
»Dr. Jeannotte, sie wollte Ihnen ein paar Fragen stellen, und deshalb habe ich mir gedacht, es ist okay, wenn sie hier wartet. Sie ist Gerichtsmedizinerin.« Ihre Stimme zitterte beinahe.
Jeannotte sah nicht in meine Richtung. Ich hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging.
»Ich… ich sortiere die Zeitschriften wieder ein. Wir haben uns nur unterhalten.« Ich erkannte Schweißtropfen auf ihrer Oberlippe.
Einen Augenblick lang starrte Jeannotte noch ihre Studentin an, dann wandte sie sich langsam mir zu.
»Sie haben sich einen etwas unpassenden Zeitpunkt ausgesucht, Miss…?« Weicher Akzent. Tennessee, vielleicht Georgia.
»Dr. Brennan.« Ich stand auf.
»Dr. Brennan.«
»Es tut mir leid, daß ich unangekündigt hier auftauche. Ihre Sekretärin hat mir gesagt, daß Sie jetzt Ihre Bürostunden haben.«
Sie musterte mich gründlich. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, die Iriden waren so hell, daß sie beinahe farblos wirkten.
Jeannotte betonte dies noch, indem sie Wimpern und Brauen tuschte. Auch ihre Haare waren von einem unnatürlichen, satten Schwarz.
»Nun gut«, sagte sie schließlich, »da Sie schon mal hier sind. Was suchen Sie denn?« Sie blieb bewegungslos in der Tür stehen. Daisy Jeannotte gehörte zu jenen Menschen, die eine scheinbar absolute Ruhe ausstrahlen.
Ich erläuterte, daß Schwester Julienne mich auf sie gebracht habe, und sprach mein Interesse für Élisabeth Nicolet an, ohne jedoch den eigentlichen Grund dafür zu nennen.
Jeannotte überlegte einen Augenblick lang und sah dann zu ihrer Assistentin hinüber. Ohne ein Wort legte die junge Frau die Zeitschriften weg und eilte aus dem Büro.
»Sie müssen meine Assistentin entschuldigen. Sie ist sehr nervös.« Sie lachte leise auf und schüttelte den Kopf. »Aber sie ist eine ausgezeichnete Studentin.«
Jeannotte ging zu einem Sessel gegenüber meinem Sofa. Wir setzten uns.
»Diese Nachmittagsstunden habe ich normalerweise für meine Studenten reserviert, aber heute scheint niemand da zu sein. Darf ich Ihnen Tee anbieten?« Ihre Stimme klang süß schmelzend wie Honig, sie erinnerte mich an die der Country-Club-Ladies zu Hause.
»Nein, vielen Dank. Ich habe eben zu Mittag gegessen.«
»Sie sind Gerichtsmedizinerin?«
»Nicht genau. Ich bin forensische Anthropologin an der University of North Carolina in Charlotte. Außerdem bin ich als Gutachterin für das Büro des Quebecer Leichenbeschauers tätig.«
»Charlotte ist eine wunderbare Stadt. Ich habe sie schon oft besucht.«
»Danke. Unser Campus ist ganz anders als der McGill, sehr modern. Ich beneide Sie um dieses wunderbare Büro.«
»Ja. Es ist bezaubernd. Birk Hall stammt aus dem Jahr 1931 und hieß ursprünglich Divinity Hall. Das Gebäude gehörte den Joint Theological Colleges, bis McGill es 1948 erwarb. Haben Sie gewußt, daß die School of Divinity eine der ältesten Fakultäten der McGill ist?«
»Nein, das wußte ich nicht.«
»Heute nennen wir uns natürlich Fakultät für Religiöse Studien. Und Sie interessieren sich also für die Familie Nicolet.« Sie schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. Ich fand den Mangel an Farbe in ihren Augen beunruhigend.
»Ja, vor allem möchte ich wissen, wo Élisabeth geboren wurde und was ihre Eltern zu der Zeit taten. Schwester Julienne konnte nirgendwo einen Geburtsschein finden, aber sie ist sicher, daß sie in
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