Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
ihr nach Paris nachgereist? Ich sah auf die Uhr. Scheiße.
Ich kramte in Geldbörse und Handtasche nach Münzen und druckte so viele Seiten aus, wie mein Kleingeld es erlaubte. Dann spulte ich zurück, stellte die Filme wieder an ihren Platz und eilte über den Campus zu Birks Hall.
Da Dr. Jeannottes Tür verschlossen war, ging ich ins Fakultätsbüro. Die Sekretärin löste den Blick gerade lange genug vom Monitor, um mir zu versichern, daß die Tagebücher zuverlässig zurückgegeben würden. Ich heftete ein kurzes Dankschreiben daran und ging.
Auf dem Rückweg in meine Wohnung war ich in Gedanken noch immer im letzten Jahrhundert. Ich stellte mir vor, wie die großen alten Häuser, an denen ich vorbeiging, vor hundert Jahren ausgesehen haben mochten. Was hatten die Bewohner gesehen, wenn sie über die Sherbrooke schauten? Nicht das Musée des Beaux Arts oder das Ritz Carlton. Nicht die neuesten Angebote von Ralph Lauren, Giorgio Armani und Gianni Versace.
Ich fragte mich, ob ihnen so schicke Nachbarn gefallen hätten. Der Anblick dieser Boutiquen ist doch sicher erbaulicher als der des Pockenspitals, das damals nicht weit von ihren Hinterhöfen wiedereröffnet wurde.
Zu Hause hörte ich meinen Anrufbeantworter ab, weil ich befürchtete, Harrys Anruf verpaßt zu haben. Nichts. Ich machte mir schnell ein Sandwich und fuhr dann ins Labor, um die Berichte zu unterzeichnen. Bevor ich ging, legte ich LaManche noch einen Zettel mit dem Datum meiner Rückkehr auf den Tisch. Normalerweise verbringe ich fast den ganzen April in Charlotte, mit der Vereinbarung, daß ich für Auftritte vor Gericht oder bei dringenden Fällen sofort nach Montreal zurückkehre. Wenn der Mai kommt und das Frühlingssemester endet, bin ich wieder hier, um den Sommer in Kanada zu verbringen.
Wieder zu Hause, brachte ich eine Stunde mit Packen und dem Organisieren meiner Arbeitsunterlagen zu. Ich reise zwar nicht gerade mit leichtem Gepäck, aber Kleidung ist dabei nicht das Problem, denn nach Jahren des Pendelns zwischen zwei Ländern habe ich gemerkt, daß es einfacher ist, alles doppelt zu haben. Ich besitze den weltgrößten Koffer auf Rädern, und den stopfe ich voll mit Büchern, Akten, Zeitschriften, Manuskripten, Vorlesenotizen und allem anderen, woran ich gerade arbeite. Diesmal gehörten auch einige Pfund Fotokopien dazu.
Um halb vier nahm ich mir ein Taxi zum Flughafen. Harry hatte nicht angerufen.
Ich lebe in der wahrscheinlich ungewöhnlichsten Wohnung in Charlotte. Es ist die kleinste Einheit in einem Gebäudekomplex mit dem Namen Sharon Hall, ein etwa ein Hektar großes Grundstück an der Queens Road in Myers Park. Urkunden sagen nichts über die ursprüngliche Funktion des kleinen Gebäudes; die heutigen Bewohner nennen es, aus Mangel an einer anderen Bezeichnung, Coach House Annex – den Remisenanbau – oder einfach Annex. Das Haupthaus von Sharon Hall wurde 1923 als Residenz für einen ortsansässigen Holzmagnaten erbaut. Nach dem Tod von dessen Frau im Jahr 1957 wurde der 700-Quadratmeter-Prachtbau dem Queens College gestiftet. Die Gebäude beherbergten die Philosophische Fakultät bis Mitte der Achtziger, als das gesamte Anwesen verkauft und Residenz und Remise in Eigentumswohnungen umgewandelt wurden. Zu dieser Zeit wurden Flügel und Anbauten mit insgesamt zehn Reihenhäusern hinzugefügt, alle im Stil der ursprünglichen Residenz. Alte Ziegel aus einer Hofmauer wurden für die neuen Gebäude verwendet, und Fenster, Stuckarbeiten und Holzböden wurden dem Original so weit wie möglich angeglichen.
Anfang der Sechziger wurde ein überdachter Freisitz mit Panoramafenstern an den Annex angebaut, und der winzige Bau diente als eine Art Sommerküche. Nach einer Weile kam er außer Gebrauch, und schließlich fungierte er zwei Jahrzehnte lang als Vorratskammer. 1993 kaufte ein Manager der NationsBank den Annex und wandelte ihn in das kleinste Reihenhaus der Welt um, wobei er den Freisitz in den Wohnbereich eingliederte. Der Manager wurde kurz darauf versetzt, genau zu der Zeit, als meine sich verschlechternde eheliche Lage mich zwang, mir eine neue Unterkunft zu suchen. Ich habe gut fünfundsiebzig Quadratmeter auf zwei Etagen, und so beengt die Wohnung auch sein mag, ich liebe sie.
Als ich die Tür aufschloß, war das einzige Geräusch das langsame, regelmäßige Ticken meiner alten Schuluhr. Pete war also hiergewesen; typisch für ihn, daß er sie für mich aufzog. Ich rief nach Birdie, aber der Kater tauchte nicht
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