Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
mir nur recht war. Ich bin ein Morgenmuffel. Allerdings ist er ein Musiknarr, und so spielte er ununterbrochen Kassetten. Klassik, Pop, sogar Country and Western, alles in Easy-Listening-Versionen. Vielleicht sollte das beruhigend wirken, wie das Gedudel in Aufzügen und Wartezimmern. Mich machte es nervös.
»Wie weit ist es nach St. Jovite?« Ich nahm mir einen Donut mit Honig und Schokoglasur.
»Ungefähr fünfundzwanzig Kilometer; auf unserer Seite des Mont Tremblant. Sind Sie hier schon mal Ski gefahren?« Er trug einen knielangen, armeegrünen Parka mit pelzgefütterter Kapuze. Von der Seite sah ich von ihm nichts außer der Nase.
»Mmh. War sehr schön.«
Am Mont Tremblant hätte ich mir beinahe Erfrierungen geholt. Es war das erste Mal, daß ich in Quebec beim Skilaufen gewesen war, und ich war angezogen wie für die Blue Ridge Mountains. Der Wind am Gipfel war so kalt gewesen, daß man flüssigen Wasserstoff hätte einfrieren können.
»Wie war’s in Memphrémagog?«
»Das Grab war nicht dort, wo wir es erwartet hatten, aber das ist ja nichts Neues. Offensichtlich wurde sie 1911 exhumiert und neu begraben. Das Komische war nur, daß es keine Aufzeichnungen davon gab.« Sehr komisch, dachte ich und trank einen Schluck des lauwarmen Kaffees. Bruce Springsteen instrumental. »Born in the U.S.A.« Ich versuchte, nicht hinzuhören. »Auf jeden Fall haben wir sie gefunden. Die Überreste werden heute ins Labor geliefert.«
»Wirklich schade mit diesem Feuer. Ich weiß, daß Sie auf eine freie Woche gehofft haben, um sich auf diese Untersuchung konzentrieren zu können.«
In Quebec kann es im Winter für einen forensischen Anthropologen ziemlich gemächlich zugehen. Die Temperatur steigt nur selten über den Gefrierpunkt. Flüsse und Seen frieren zu, der Boden wird steinhart, und Schnee verhüllt alles. Die Insekten verschwinden, und viele Raubtiere graben sich für den Winterschlaf ein. Das Ergebnis: Tote im Freien verwesen nicht. Aus dem St. Lawrence werden keine Wasserleichen gezogen. Auch die Menschen verkriechen sich. Jäger, Wanderer und Picknicker streifen nicht mehr durch Feld und Wald, und einige Leichen des Herbstes werden erst bei der Schneeschmelze im Frühling entdeckt. Folglich liegt die Zahl der Fälle, die mir zugewiesen werden – die Gesichtslosen auf der Suche nach einem Namen – zwischen November und April deutlich niedriger.
Die einzige Ausnahme bilden Brände in Privathäusern. Sie nehmen in den kalten Monaten zu. Die meisten verbrannten Leichen kommen zum Odontologen und werden anhand ihrer Zähne identifiziert; da Adresse und Bewohner meistens bekannt sind, kann man antemortale zahnärztliche Unterlagen zum Vergleich heranziehen. Erst wenn verkohlte Unbekannte auftauchen, kann es sein, daß meine Hilfe erforderlich wird.
Oder in schwierigen Bergungssituationen. LaManche hatte recht. Ich hatte auf eine geruhsame Woche gehofft, und dieser Ausflug nach St. Jovite paßte mir ganz und gar nicht.
»Vielleicht braucht man mich für die Untersuchung gar nicht.« Eine Million und eine Geige intonierten »I’m Sitting on the Top of the World«. »Wahrscheinlich gibt es Unterlagen über die Familie.«
»Wahrscheinlich.«
Nach knapp zwei Stunden hatten wir St. Jovite erreicht. Die Sonne war aufgegangen und tauchte den Ort und die Landschaft in eisige, frühmorgendliche Farbtöne. Wir bogen nach Westen auf eine kurvige zweispurige Nebenstraße ab. Fast sofort kamen uns zwei Sattelschlepper entgegen. Der eine transportierte einen zerbeulten grauen Honda, der andere einen roten Plymouth Voyager.
»Wie ich sehe, hat man die Fahrzeuge sichergestellt.«
Ich sah den Transportern im Seitenspiegel nach. Der Voyager hatte Kindersitze auf der Rückbank und einen gelben Smiley-Sticker auf der hinteren Stoßstange. Ich stellte mir ein Kind im Fenster vor, die Zunge herausgestreckt, die Finger in den Ohren, der Welt Grimassen schneidend. Glubschaugen, hatten meine Schwester und ich es genannt. Vielleicht lag dieses Kind bis zur Unkenntlichkeit verkohlt in einem Schlafzimmer im Obergeschoß.
Nach wenigen Minuten sahen wir, wonach wir suchten. Polizeiautos, Löschfahrzeuge, LKWs, mobile Übertragungswagen der Medien, Krankenwagen und Zivilfahrzeuge säumten die Straße und beide Seiten einer langen Kiesauffahrt.
Reporter standen in Gruppen zusammen, einige unterhielten sich, andere kontrollierten ihre Geräte. Wieder andere saßen im Auto, um sich warmzuhalten, während sie auf ihre Geschichte
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