Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
die Uhr.
»Langsam ist Abendessenszeit.«
»Wir können die Leute ja beim Tofuburger-Braten überraschen.«
»Baker treffen wir aber erst in neunzig Minuten wieder.«
»Wie wär’s denn mit einem Überraschungsbesuch, Skipper?«
»Besser, als hier rumzusitzen.«
Ryan streckte die Hand nach dem Zündschlüssel aus, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Ich folgte seinem Blick und sah Kathryn mit Carlie auf dem Rücken den Bürgersteig hochkommen. Eine ältere Frau mit langen, dunklen Zöpfen ging neben ihr. Der feuchte Wind blies ihnen die Röcke nach hinten, so daß sich Hüften und Beine im Stoff abzeichneten. Sie blieben stehen, Kathryns Begleiterin sprach mit dem Prediger, und dann gingen die beiden weiter in unsere Richtung.
Ryan und ich wechselten Blicke, stiegen dann aus und gingen auf die Frauen zu. Sie hörten auf zu reden, als sie uns näher kommen sahen, und Kathryn lächelte mich an.
»Wie geht’s?« fragte sie und wischte sich eine Locke aus der Stirn.
»Nicht so gut«, sagte ich.
»Kein Glück bei Ihrer Suche nach dem Mädchen?«
»Kein Mensch kann sich an sie erinnern. Ich finde das merkwürdig, da sie mindestens drei Monate hier verbracht hat.«
Ich beobachtete ihre Reaktion, aber ihr Ausdruck änderte sich nicht.
»Wo haben Sie gefragt?« Carlie bewegte sich, und Kathryn griff nach hinten, um den Sitz des Tragegurts zu korrigieren.
»In Supermärkten, Lebensmittelgeschäften, Drogerien, Tankstellen, Restaurants, in der Bibliothek. Wir haben es sogar bei Boombears versucht.«
»Ja. Gute Idee. Wenn sie schwanger war, ist sie vielleicht in einen Spielzeugladen gegangen.«
Das Baby wimmerte, hob dann die Arme und streckte sich, die Füße gegen den Rücken der Mutter gestemmt.
»Na, wer ist denn da aufgewacht?« sagte Kathryn und griff nach hinten, um ihren Sohn zu beruhigen. »Und niemand hat sie auf diesem Foto erkannt?«
»Kein Mensch.«
Carlies Wimmern wurde schriller, und die ältere Frau stellte sich hinter Kathryn und nahm den Kleinen aus dem Tragegurt.
»Ah, Entschuldigung. Das ist Ellie, aber wir nennen sie El.« Kathryn deutete auf ihre Begleiterin.
Ryan und ich stellten uns vor. El nickte nur schweigend und bemühte sich weiter um Carlie.
»Könnten wir den Damen vielleicht ein Cola oder eine Tasse Kaffee spendieren?« fragte Ryan.
»Nee. Das Zeug schädigt die Gene.« Kathryn rümpfte die Nase und lächelte dann. »Aber einen Saft könnte ich schon vertragen. Und Carlie ebenfalls.« Sie verdrehte die Augen und griff nach der Hand ihres Jungen. »Er kann ganz schön lästig sein, wenn er unzufrieden ist. Und Dom holt uns ja erst in dreißig Minuten ab, oder, El?«
»Wir sollten auf Dom warten.« Die Frau sprach so leise, daß ich sie kaum verstehen konnte.
»Ach, El, du weißt doch, daß er immer zu spät kommt. Wir können uns ja den Saft holen und draußen sitzen. Ich will nicht, daß Carlie auf der Rückfahrt die ganze Zeit quengelt.«
El öffnete den Mund, aber bevor sie etwas sagen konnte, wand Carlie sich und stieß einen Schrei aus.
»Saft«, sagte Kathryn, die jetzt das Baby wieder an sich nahm und es auf ihrer Hüfte schaukelte. »Blackstone’s hat jede Menge Auswahl. Ich habe die Karte im Fenster gesehen.«
Wir betraten den Laden, und ich bestellte ein Cola light. Die anderen nahmen Saft, und dann setzten wir uns mit unseren Drinks auf eine Bank vor der Tür. Kathryn zog eine kleine Decke aus ihrer Tasche, breitete sie zu ihren Füßen aus und legte Carlie darauf. Dann holte sie eine Wasserflasche und einen kleinen gelben Becher heraus. Der Becher hatte einen runden Boden und einen abnehmbaren Deckel mit Trinkschnabel. Sie füllte ihn zur Hälfte mit Beerensaft, goß Wasser dazu und gab ihn Carlie. Er griff mit beiden Händen danach und begann sofort, an dem Schnabel zu saugen. Ich sah zu, und wieder überkam mich die Erinnerung, die ich schon auf der Insel gehabt hatte.
Ich hatte das Gefühl, irgendwie nicht mehr im Einklang mit der Welt zu stehen. Die Leichen auf Murtry. Erinnerungen an Katy als Baby. Ryan in Beaufort, mit seiner Waffe und seinem Nova-Scotia-Akzent. Die Welt um mich herum wirkte fremd, der Raum, in dem ich mich bewegte, wie von einem anderen Ort oder einer anderen Zeit hierherversetzt, und doch irgendwie gegenwärtig und verstörend real.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Gruppe«, sagte ich, nachdem ich meine Gedanken ins Hier und Jetzt zurückgeholt hatte.
El sah mich an, sagte aber nichts.
»Was wollen Sie wissen?« fragte
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