Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
Chef, der mich aus blauen Augen eindringlich und mit lebhaftem Interesse mustert und mir seine ganze Aufmerksamkeit schenkt. Als wir sitzen, frage ich ihn, wie ich ihm behilflich sein kann.
»Zuerst möchte ich mich bei Ihnen bedanken, Dr. Scarpetta«, erwidert Lott, was ich schon befürchtet habe. »Was Sie durchmachen mussten, war sicher nicht angenehm.« Damit meint er die Vorgänge im Gerichtssaal, und die Bemerkung weckt unschöne Erinnerungen an die Geldstrafe, zu der der Richter mich vergattert hat. Außerdem an Lotts eigene Anwältin, die versucht hat, mich auf ganzer Linie als unglaubwürdig darzustellen.
»Sie haben keinen Grund, sich bei mir zu bedanken, Mr. Lott«, entgegne ich, während ich daran denke, dass ich von seinem Helikopter aus gefilmt worden bin. »Ich bin Angestellte im öffentlichen Dienst und tue nur meine Pflicht.«
»Ohne Ansehen der Person«, erwidert er. »Sie haben vorurteilsfrei und objektiv gehandelt und einfach nur gesagt, was wahr ist, obwohl sie niemand dazu hätte zwingen können.«
»Es ist nicht meine Aufgabe, Partei zu ergreifen oder eine Meinung zu äußern, sofern es nicht um eine Todesursache geht.«
»Das ist nicht meine Frau«, antwortet er. Peggy Stantons Name wurde noch nicht veröffentlicht. »Als der Fernsehbeitrag in der Verhandlung vorgeführt wurde, wusste ich sofort, dass sie es nicht ist, und zwar innerhalb von Sekunden. Das wollte ich Ihnen mitteilen, nur für den Fall, dass es da Fragen gibt.«
Ich überlege, ob Toby Jill Donoghue womöglich die Identität der Toten verraten hat und ob sie weiß, dass ihr Mandant hier ist.
»Ganz gleich, in welchem schrecklichen Zustand die Leiche auch gewesen sein mag, war mir auf Anhieb klar, dass es nicht Millie ist.« Lott entfernt den Schraubverschluss von einer Wasserflasche. »So würde sie niemals aussehen. Und wenn Sie ihre Krankenakten gelesen haben und ihre Personenbeschreibung kennen, wissen Sie, dass ich recht habe.«
Zweifellos hat man ihm mitgeteilt, dass mir diese Unterlagen bekannt sind. Ebenso wie die Tatsache, dass Mildred Lott beinahe eins achtzig groß ist – oder war. Peggy Stanton hingegen, und von ihrem Tod sollte Channing Lott eigentlich nichts wissen, wenn er nichts damit zu tun hat und seine Anwältin nicht informiert wurde, war nur knapp eins fünfundsechzig. Als ich sie in den Rettungskorb gehoben habe, war in den Fernsehaufnahmen gut zu sehen, dass es sich eindeutig nicht um eine große Frau handelte. Außerdem habe ich bei der Untersuchung festgestellt, dass ihr Haar tatsächlich weiß und nicht blond gefärbt war und dass sie keine Narben von kürzlichen Schönheitsoperationen wie einer Bauchstraffung und einem Gesichtslifting aufwies.
»Als es in den Nachrichten kam, war es unser erster Gedanke.« Al Galbraith greift nach seiner Kaffeetasse. Offenbar fühlt er sich unwohl, als fände er das Thema geschmacklos. »Ganz gleich, in welchem Zustand eine Leiche auch sein mag, sie wird nicht kleiner«, fügt er verlegen hinzu, als fühle er sich verpflichtet, etwas über die verschwundene Frau seines Chefs zu sagen.
»Veränderungen nach dem Tod sorgen nicht dafür, dass jemand schrumpft«, stimme ich zu.
»Eine beeindruckende Frau«, spricht Galbraith weiter, und mir schießt durch den Kopf, dass er sie offenbar nicht gemocht hat. »Alle, die Mrs. Lott kennenlernten, waren überrascht, wie walkürenhaft sie war.«
»Genau«, ergänzt Shelly Duke, und ich werde den Eindruck nicht los, dass die beiden nicht freiwillig hier sind. »Eine auffällige Frau und sehr raumgreifend. Sie war sehr präsent, man konnte sie nicht übersehen. Das meine ich natürlich nur positiv«, fügt sie mit einer traurigen Miene hinzu, die mich nicht überzeugen kann.
Lott hat sie gezwungen mitzukommen. Sie fühlen sich so beklommen, wie man sich in einem rechtsmedizinischen Institut eben fühlt. Und nun sitzen sie mir gegenüber und erörtern eine Person, zu der sie offenbar eine gespaltene Haltung hatten. Ich frage mich, ob der Überraschungsbesuch Jill Donoghues Idee war, kann mir aber keinen Grund dafür vorstellen. Schließlich hat sie kühn verkündet, dass es von diesem Fall keine zweite Auflage geben wird. Ihr Mandant könne nicht mehr wegen des hier verhandelten oder eines ähnlichen Vergehens vor Gericht gestellt werden.
Der Albtraum ist zwar ausgestanden, aber das Schlimmste ist noch nicht vorbei,
hat Donoghue den Reportern mitgeteilt, nachdem der Freispruch heute Morgen bekanntgegeben wurde. Nun
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