Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
Campingplatz und das Wetter in jener Nacht«, meint Benton, als hätte Burke nichts gesagt, »waren optimal für einen Täter, der nicht gehört oder gesehen werden wollte, um sein Opfer überrumpeln zu können. Man musste dort zwar mit Bären rechnen, aber nicht mit einem menschlichen Angreifer.«
»Dazu hätte er allerdings von der Existenz des Campingplatzes wissen müssen.« Briggs hat die Brille wieder aufgesetzt und betrachtet etwas auf seinem Schreibtisch. »Er ist ziemlich abgelegen und für Auswärtige nicht leicht zu finden. Dazu muss man schon ein Campingfreund sein.«
»Es ist anzunehmen, dass er ihn kannte, ja, Sir, da stimme ich Ihnen zu«, erwidert Hahn. »Bei schlechten Witterungsbedingungen haben die Paläontologen lange gearbeitet und erst spätabends gegessen. Wusste der Täter das auch? Ich denke, schon. Meiner Ansicht nach hat er sich über ihren Tagesablauf informiert.«
Sie schildert uns weiter Emma Shuberts Alltag, wenn sie den Sommer in der Peace Region von Alberta verbrachte, ein Name, der mir inzwischen wie eine Ironie des Schicksals erscheint. Bei Wolkenbrüchen und starkem Wind sind sie und ihre Kollegen meistens in den Wohnwagen geblieben, die die in den Knochenbetten arbeitenden Wissenschaftler als eine Art provisorische Kaserne betrachteten – eng, spartanisch eingerichtet und mit benzinbetriebenen Generatoren ausgestattet. Am frühen Morgen versammelten sich alle zum Frühstück im Speisezelt und gingen dann zu Fuß über eine Brücke, die über den Pipestone Creek führt, und durch Schlamm und Gestrüpp zu der Stelle, wo die Pachyrhinosaurier gefunden worden waren.
Manchmal regnete es wie im Monsun, erklärt Hahn. In diesem Teil der Welt seien die Monate, in denen man draußen arbeiten könne, begrenzt, denn bei gefrorenem Boden sei nichts mehr möglich. Den Spätherbst, den Winter und den Anfang des Frühjahrs verbrächten die Paläontologen dann im Labor oder lehrten an einer Hochschule.
»Laut der Vernehmungsprotokolle, die man uns zur Verfügung gestellt hat, und meiner Recherchen«, spricht Hahn weiter, »haben die Paläontologen am 23 . August am Pipestone Creek in einer Schlammwüste gegraben. Ein Lager mit Pachyrhinosaurusknochen, das vor etwa zwanzig Jahren entdeckt wurde. Man nimmt an, dass es sich um ein Massengrab handelt, wo Hunderte von Dinosauriern ertrunken sind. Wegen des Regens war die hügelige Landschaft der Ausgrabungsstätte am Wapiti nicht zugänglich, wo Emma normalerweise gegraben hat. Selbst bei schönem Wetter muss man sich dort anseilen. Wenn es schüttet wie aus Eimern, kann man es vergessen.«
»Aber dort wollte sie hin«, ergänzt Benton. »Eine verhältnismäßig neue Ausgrabungsstätte, die sie gewissermaßen als ihr Territorium betrachtete. Wie Val bereits sagte, ist die Stelle am Pipestone Creek schon viel länger bekannt.«
»Sie war abgegrast, zumindest war das laut der Aussage ihrer Kollegen Emmas Meinung«, antwortet Hahn. Briggs liest etwas, vermutlich E-Mails.
»Das Wichtige ist«, merkt Benton an, »dass Emmas Tagesablauf wetterabhängig war. Wenn sie mit dem Schnellboot oder dem Auto zum Knochenbett am Wapiti fuhr, was pro Strecke eine Stunde dauerte, übernachtete sie normalerweise nicht auf dem Campingplatz. Die Wohnwagen haben sie und die anderen Paläontologen hauptsächlich dann benutzt, wenn sie am Pipestone Creek arbeiteten, weil der von dort aus bequem zu Fuß zu erreichen war. Das Knochenbett am Wapiti, wo Emma zwei Tage vor ihrem Verschwinden mit dem Zahn eines Pachyrhinosauriers einen wichtigen Fund gemacht hatte, liegt etwa dreißig Kilometer nördlich von Grande Prairie. Wenn Emma dort arbeitete, ist sie in der Stadt geblieben, wo sie in College Park ein Einzimmerapartment gemietet hatte.«
»Das heißt, sie wäre zu ihrer üblichen Ausgrabungsstätte flussaufwärts gefahren, hätte in der Stadt geschlafen und wäre vielleicht noch am Leben, wenn es nicht geregnet hätte«, stellt Briggs fest.
»Wenn es nicht geregnet hätte, hätte sie an ihrer üblichen Ausgrabungsstätte gearbeitet«, bestätigt Benton. »Das hätte ihr möglicherweise das Leben gerettet, auch wenn das im Nachhinein schwer zu sagen ist. Mag sein.«
»Für mich klingt das, als wäre sie beobachtet worden.« Wieder schaut Briggs auf seinen Schreibtisch. Ich kann zwar nicht sehen, was er dort tut, aber ich kenne ihn. Er macht wieder einmal mehrere Dinge gleichzeitig.
»Ganz sicher hat der Täter sie verfolgt«, erwidert Benton. »Und zwar lange
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