Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
Sender.« Er hält sich schützend die Hand vor Augen und schaut nach oben. »Auch kein Rettungshubschrauber. Die Polizei von Boston oder Massachusetts kommt auch nicht in Frage. Ebenso wenig wie das Ministerium für Heimatschutz. Könnte ein Sikorsky sein, ein Riesenvogel, aber uns gehört er eindeutig auch nicht. Also tippe ich auf privat. Jemand, der gerade spazieren fliegt und sich fragt, was hier los ist.«
»Es ist eine Kamera darauf montiert.« Ich bekomme ein mulmiges Gefühl, als ich beobachte, wie der schimmernde weiße Hubschrauber reglos wie ein Fels in der Luft verharrt. Die Nase ist auf uns gerichtet, die Sonne spiegelt sich grell in der Frontscheibe.
»Vielleicht eine Fernsehkamera. Es könnte aber auch eine FLIR -Wärmebildkamera sein«, erwidert Labella. »Von hier aus kann ich das nicht feststellen.«
Die einzige Privatperson, der ich zutraue, so ein Ding an ihrem Helikopter anzubringen, ist meine Nichte Lucy. Allerdings spreche ich diese Möglichkeit nicht aus. Es gefällt mir gar nicht, dass ich ihren neuen Vogel, einen Bell mit Zwillingstriebwerk, der erst vor einem knappen Monat geliefert wurde, noch nicht kenne. Doch Lucy würde sich nie einen weißen Helikopter zulegen, versuche ich, mich zu beruhigen. Schwarz oder dunkelgrau, aber nicht weiß mit roten und blauen Streifen am Heckausleger. Die Hecknummer erkenne ich auch nicht. Ich frage mich, ob Marino den neuen Hubschrauber schon gesehen hat, doch er scheint ihn gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, spricht mit Sullivan und achtet nicht auf das Ungetüm, das dröhnend über uns verharrt.
»Nun, ich finde es abstoßend. Es sollte verboten werden.« Wieder bekomme ich Mitleid mit der Schildkröte und ärgere mich über die niedrigen Instinkte des Menschen, als ich beobachte, wie die Gaffer sich an der Verfolgung des Feuerwehrboots machen. »Die Leute sind rücksichtslos und haben nicht einen Funken Verstand. Nicht auszudenken, wenn irgend so ein verdammter Idiot die Lederschildkröte überfahren würde. Nach allem, was sie durchgemacht hat …«
»Es ist illegal, Meeresschildkröten zu jagen, zu quälen oder zu verletzen.« Labella steht auf. Er hat einen Trockentauchanzug unter dem Arm. »Was halten Sie von hunderttausend Dollar Geldstrafe?«
»Was halten Sie von Knast?«
»Mit Ihnen lege ich mich lieber nicht an.«
»Heute besser nicht.«
»Wir werfen jetzt die Motoren an und fahren bis auf Reichweite an das Bojentau heran«, teilt er mir mit, während Kletty eine Taucherleiter aus Alu am Heckspiegel befestigt. Unterdessen klappt Marino wieder die Tatortkoffer auf. Dabei unterhält er sich lautstark mit Sullivan über Motorräder und die miserablen Straßenverhältnisse hier oben im Norden. »Natürlich schalten wir sie wieder aus, wenn Sie im Wasser sind.«
»Danke, ich gerate nämlich nur ungern mit Schiffsschrauben in Konflikt«, antworte ich.
»Ja, Ma’am, dafür habe ich Verständnis.« Labella grinst, und ich bemühe mich, nicht darauf zu achten, wie sein Aussehen auf mich wirkt.
Orangefarbenes und schwarzes Nylon raschelt, als er mir den Tauchanzug reicht und mich fragt, ob ich beim Anziehen Hilfe brauche. Ich lehne dankend ab und setze mich auf eine Bank, um aus den nassen Stiefeln und Socken zu schlüpfen. Die Versuchung, mich auch der durchweichten Cargohose und des langärmeligen Hemds zu entledigen, ist groß. Es wäre wirklich das Sinnvollste, mich bis auf die Unterwäsche zu entkleiden und einen Isolieranzug darunter anzuziehen, doch das kommt auf einem Boot ohne Kajüte und voller Männer nicht in Frage. Mir fällt auf, wie befangen ich plötzlich bin. Verklemmtheit kann ich mir in einem Beruf, in dem man unter den katastrophalsten Bedingungen arbeiten muss, eigentlich nicht leisten. Zum Beispiel Fundorte in der freien Natur, wo es keine Toilette gibt und man dafür mit verwesenden Körperflüssigkeiten und Maden in Kontakt kommt. Ich habe mich schon an Waschbecken in Tankstellen gesäubert und mich hinten in einem Auto oder Transporter umgekleidet, ohne mich darum zu kümmern, ob mich jemand dabei beobachten könnte.
Ich habe gelernt, mich nicht zu genieren, und weiß, wann man äußere Bedingungen manchmal einfach nicht beachten darf. Außerdem bin ich, verdammt noch mal, daran gewöhnt, dass männliche Kollegen mich angaffen und dabei an Titten und Ärsche denken. Es stört mich nicht, oder besser, es hat mich nicht gestört, weil ich die Fähigkeit besaß, darüber hinwegzusehen und mich voll und ganz auf meine
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