Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
würde ihn nicht als persönlichen Freund bezeichnen, allerdings als guten Bekannten. Conry geht mir immer einen Drink holen, plaudert mit mir über die neuesten forensischen Erkenntnisse oder bittet mich um Rat, weil seine Tochter Medizin studiert.
»Alle Anwälte und Geschworenen waren ebenfalls um neun hier, wie es von ihnen erwartet wird, um ihre Pflicht zu tun«, fährt er in demselben tadelnden Tonfall fort. Ich lausche zunehmend bestürzt. »Und weil Sie beschlossen haben, dass Ihr Beruf bei Ihnen an erster Stelle kommt, waren wir gezwungen, auf Sie zu warten, womit Sie wohl andeuten wollten, dass Sie die wichtigste Person in diesem Prozess sind.«
»Verzeihung, Euer Ehren, ich wollte nichts dergleichen andeuten.«
»Sie haben die wertvolle Zeit dieses Gerichts vergeudet. Ja, vergeudet«, spricht er zu meinem Entsetzen weiter. »Und nicht nur Sie haben diese Zeit vergeudet, sondern auch Mr. Steward, der mich nicht täuschen kann, indem er eine Zeugenvernehmung verschleppt, um die Sache hinauszuzögern, bis Sie hier erscheinen, weil Sie zu beschäftigt oder zu wichtig sind, um einer richterlichen Anordnung Folge zu leisten.«
»Es tut mir leid, Euer Ehren. Es war niemals meine Absicht, mich einer Anordnung zu widersetzen. Ich habe nur vergessen …«
»Dr. Scarpetta, Sie wurden von der Verteidigung vorgeladen, um heute um vierzehn Uhr in diesem Gerichtssaal auszusagen, richtig?«
»Ja, Euer Ehren.« Ich fasse es nicht, dass er so etwas in Gegenwart der Geschworenen tut.
»Sie sind Ärztin und Anwältin, korrekt?«
»Ja, Euer Ehren.« Er hätte die Geschworenen hinausschicken müssen, bevor er mir die Leviten liest.
»Also nehme ich an, dass Sie die Bedeutung des Wortes
Vorladung
kennen.«
»Ja, Euer Ehren.«
»Bitte erklären Sie dem Gericht, wie Sie das Wort Vorladung auslegen.«
»Eine Vorladung ist ein von einer staatlichen Behörde ausgestelltes Schriftstück, Euer Ehren, das jemanden verpflichtet, eine Aussage zu machen, und im Fall der Verweigerung Strafen androht.«
»Eine richterliche Anordnung.«
»Ja, Euer Ehren«, erwiderte ich. Ich traue meinen Ohren nicht, lasse es mir aber nicht anmerken.
Er wird ein Exempel an mir statuieren. Ich spüre Jill Donoghues Blick und kann mir gut vorstellen, welche Genugtuung es ihr bereitet, zuzuschauen, wie einer der angesehensten Richter von Boston mich in Gegenwart der Geschworenen und ihres Mandanten Channing Lott genüsslich zur Schnecke macht.
»Und Sie haben gegen diese richterliche Anordnung verstoßen, weil Ihnen Ihre Arbeit wichtiger war als die des Gerichts, oder?«, hakt er in demselben oberlehrerhaften Ton nach.
»Vermutlich haben Sie recht, Euer Ehren. Ich entschuldige mich dafür.« Aus kilometerweiter Distanz erwidere ich seinen kalten Blick aus blauen Augen.
»Nun, Ihre Entschuldigung genügt mir nicht, Dr. Scarpetta. Ich werde Ihnen eine Geldstrafe in Höhe der Stundensätze aller Beteiligten auferlegen, deren Zeit sie in den letzten fünfundsiebzig Minuten vergeudet haben. Genauer genommen, anderthalb Stunden, wenn man die Zeit mitrechnet, die ich brauche, um mich mit dieser überflüssigen und unglückseligen Angelegenheit zu befassen. Und es wird noch mehr Zeit hinzukommen, weil wir nun verspätet sind und sich die Verhandlung deshalb bis nach siebzehn Uhr und in die Abendstunden hinein hinziehen wird. Meiner Schätzung nach haben Sie das Gericht zweitausendfünfhundert Dollar gekostet. Und jetzt treten Sie bitte in den Zeugenstand, damit wir fortfahren können.«
Es ist totenstill im Gerichtssaal, als ich die Holzstufen hinaufsteige und auf dem schwarzen Ledersessel Platz nehme. Der Gerichtsdiener fordert mich auf, die rechte Hand zu heben und zu schwören, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen, während Jill Donoghue, ein Mikrofon und einen Laptop vor sich, geduldig an ihrem Pult mitten in einem riesigen mit Holztischen und Bänken im Windsorstil gefüllten Raum wartet. Die vielen Flachbildschirme erinnern mich an die silbrigen Solarzellen eines Satelliten.
Ich werfe einen Blick auf die drei Staatsanwälte, die nebeneinandersitzen, Notizen durchblättern oder sich welche machen. An Dan Stewards entgeisterter Miene erkenne ich, dass er nicht mit dieser demütigenden Gardinenpredigt gerechnet hat, die ich gerade über mich ergehen lassen musste. Offenbar kalkuliert er, wie groß der angerichtete Schaden ist.
Siebzehn
Ich werde nur selten von der Verteidigung aufgerufen, denn meine Aussage nutzt den
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