Knochenbrecher (German Edition)
bewegen, folgten den Pedalen, die rotierten, ohne ihn von der Stelle zu bewegen. Ab und zu warf er einen Blick auf das Display, das seine Pulsfrequenz, seine gefahrenen Kilometer und seinen Kalorienverbrauch anzeigte. Nach gut fünf Kilometern ließ er noch einmal das Gespräch mit der Staatsanwältin Revue passieren, die seinen kurzen Bericht als Antibericht bezeichnet hatte und seine bisherigen Resultate als Nullrunde. Auch der Grund für ihren Appell war nicht schwer zu erraten gewesen. Walter Wiebrands, der ominöse Anrufer, war nicht nur einer der Knochenbrecher, die auf Alines Liste standen, sondern zählte zum Freundeskreis der Familie, wie Dr. Wilms angedeutet hatte.
An diesem Punkt angelangt, versuchte Greven sich von seiner Arbeit zu verabschieden, hatte aber keinen Erfolg. Nicht einmal Miles Davis gelang es an diesem Abend, ihn in einen anderen Kosmos zu entführen. Während die Pedale schon fast automatisch unter ihm kreisten, verselbständigten sich seine Gedanken und drifteten in Filmszenen ab, vermischten sich mit realen Bildern und landeten schließlich bei einem Essay von Umberto Eco, das er vor Jahren gelesen hatte. Über die Bedeutung von Zeichen. Fast erstaunt, sich überhaupt daran erinnern zu können, ließ er seine Gedanken weiterziehen, während Chick Corea sein E-Piano attackierte. Wieder tauchten Filmbilder auf, ohne dass ihm der Titel einfiel. Jemand drückte eine Zigarette in einem Aschenbecher aus, ein elegant gekleideter Mann, der die erforderliche Handbewegung unroutiniert ausführte. Greven gab Gas, sein Puls beschleunigte sich. Als der Mann durch die zweiflügelige Tür verschwand, ließ er einen Toten in einem antiken Ohrensessel zurück. Die Schusswunde war gut zu erkennen, ein dünnes Rinnsal aus Filmblut klebte an der Schläfe. Es war ein alter Mann, ein englischer Aristokrat. Noch immer suchte Greven nach dem Titel.
Das Ende der Schallplattenseite kappte seine Suche und ließ ihn regelrecht von seinem Gefährt abspringen. In wenigen Sekunden drehte er das Vinyl um und ließ Miles Davis einen Tag später weiterspielen: Thursday Miles . Als Mona hinter ihrer Staffelei vorschaute, hatte er schon wieder Fahrt aufgenommen. Rasender Stillstand. Wo hatte er dieses Schlagwort gelesen? Es fiel ihm ebenso wenig ein wie der Titel des Films, dessen Szene ihm ohne sein Zutun in die Gedankenwelt geraten war, die nun wieder vom Rhythmus bestimmt wurde. Jack DeJohnette trommelte für Miles und auch für ihn. Keith Jarrett ließ seine Orgel aufjaulen und über die industriell genormten Klänge triumphieren, die heute aus fast allen Keyboards sickerten.
Das immobile Fahrrad fuhr ohne ihn, seine Werte sahen nicht schlecht aus, Puls um die hundert. Er kam gut voran. Das Haus mit den zwei Giebeln war ein Hexenhaus. In Hexenhäusern war nicht immer alles so, wie man es gewohnt war, auch wenn es keine echten Hexenhäuser waren. Wie oft hatte er einen Bogen um das Haus gemacht! Das Haus der Geschichten. Die nicht stimmten, denn nie waren Kinder darin verschwunden. Nur die Hexe war ermordet worden, die nie eine gewesen war. Geschichten, die man Kindern erzählte. Geschichten, die Kinder weitererzählten. Und lange glaubten. Auch die Erdstrahlen waren eine Geschichte, die viele glaubten. Die Geschichte einer Ursache, die für andere, viel komplexere Ursachen herhalten musste. Eine einfache, eine vereinfachende, aber wirkungsvolle Geschichte, die nach einem einfachen Gegenmittel verlangte. Nach einem, das im Prinzip den Gesetzen der Mechanik gehorchte. So wie die üblichen Ermittlungen. Erdstrahlen und Ermittlungen. In einer billigen Illustrierten, die jemand in der Kantine hatte liegen lassen, war Ackermann auf eine doppelseitige Anzeige gestoßen, die eine Art Matratze aus Kupferdraht anpries. Tausendfach bewährt. Ackermanns geschärfte und selektive Wahrnehmung hatte diese Anzeige sofort registriert, die er sonst mit Sicherheit übersehen hätte. Ein teures Gegenmittel, denn der Hersteller hatte zweitausend Meter Kupferdraht in jede seiner Matratzen einnähen lassen. Um die Strahlen auch wirklich abzuwehren. Wissenschaftlich geprüft. Von Wissenschaftlern, die ebenso wenig genannt wurden wie deren Methoden. Ein Foto zeigte einen Experten im weißen Laborkittel, der vorgab, Tausende von Fällen zu kennen, in denen sich die Kupferdecke schon bewährt hatte. Selbst auf Reisen und unter dem Zelt. Denn Erdstrahlen waren überall. Vor allem jedoch dort, wo man sie nicht vermutete. Und sie konnten sogar
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