Knochenbrecher (German Edition)
über Leben und Tod entscheiden. Warum also zögern und die Kupferdecke nicht umgehend bestellen? Die paar Euro war doch jedes Leben wert. Porto und Verpackung? Kaum der Rede wert angesichts der Garantie, sich für das Leben entschieden zu haben. Was aber, wenn die Erdstrahlen nur eine …?
»Darf ich dich mal stören, Jan Ullrich?«, durchtrennte Mona die Strahlen. »Willst du nun doch wieder an der Tour de France teilnehmen? Du hockst seit über einer Stunde auf dem Ding.«
»Ich muss noch einmal nach Greetsiel«, antwortete Greven.
»Damit wirst du kaum dort ankommen«, schmunzelte Mona.
»Mir ist gerade was eingefallen.«
»Etwas, das du übersehen hast? Eine neue Spur?«
»Nein, eine Geschichte. Nur eine Geschichte«, erklärte Greven und schwang sich vom Rad, das keines war, obwohl er angeblich mehr als zwanzig Kilometer damit zurückgelegt hatte. Seine Knie gaben kurz nach, er spürte nun doch seine Waden.
»Alles in Ordnung?«, fragte Mona besorgt, der Grevens entrückter Blick gar nicht gefiel.
»Die Ordnung. Das ist der Punkt. Es geht um die Ordnung«, antwortete Greven, packte das Trimmrad und stemmte es zurück in sein Arbeitszimmer.
Am nächsten Morgen rief er Häring an und meldete sich ab. Außerdem bat er seinen Mitarbeiter, einige Zeitungsartikel zusammenzustellen. Dann trat er erneut auf ein Pedal, doch diesmal bewegte er sich tatsächlich vorwärts und traf keine fünfundvierzig Minuten später in seinem Heimatdorf ein. Er fuhr einfach in den Hafen und hielt direkt unterhalb des Hexenhauses. Mit dem Daumennagel teilte er das Siegel in zwei Halbkreise und schloss auf. Doch statt wie beim letzten Mal alle Räume auf den Kopf zu stellen, setzte er sich nur ins Wartezimmer. Wie am Tag des Mordes.
Nachdem er einige Minuten mit seinen Augen durch den Raum gewandert war, ließ er den Film ablaufen. Hedda öffnete ihm, führte ihn ins Wartezimmer, kassierte ihr Honorar und erklärte, einen schweren Fall im Behandlungszimmer zu haben. Dann verschwand sie durch die niedrige Tür. Der Mörder war als Patient gekommen. Die Frage war längst geklärt. Er war aber nur aus einem Grund gekommen, nämlich um sie zu töten. Er hätte sie auch von hinten erschießen oder heimlich vergiften können. Stattdessen war er zu ihr gegangen. Er hatte mit ihr gesprochen. Bevor er ihr das Genick brach. Um ihr was zu sagen? Gesprochen hatten die beiden, daran konnte sich Greven erinnern. Welcher Mörder spricht mit seinem Opfer? Derjenige, der etwas von ihm erfahren will. Und derjenige, der ihm den Grund für die unmittelbar folgende Tat erklären will, gewissermaßen die Begründung für das von ihm gefällte Urteil. Hedda sollte wissen, warum sie sterben musste. Dabei hatte der Täter riskiert, entdeckt und erkannt zu werden. Er hätte einen besseren Zeitpunkt wählen können, hatte sich aber für diesen entschieden. Er konnte oder wollte nicht warten. Er hatte vorsätzlich, spontan, aber nicht völlig ohne Vorbereitung zugeschlagen.
Mehrere Male ließ Greven den Film ablaufen, bevor er sich wieder aus dem Hörnstuhl erhob. Sein Knie war schmerzfrei. Wie schon lange nicht mehr. Er klebte ein neues Siegel auf den Türschlitz und spazierte auf der Deichkrone zum Hafen. Vielleicht war dies auch der Weg des Täters gewesen. Für jeden sichtbar und doch unsichtbar, weil auf kaum jemanden so wenig geachtet wurde wie auf einen Spaziergänger auf dem Deich. Er war so alltäglich, dass er aufhörte zu existieren.
Etwa zehn Kutter lagen im Hafen, wie so oft in zwei Reihen. Auch eines der Plattbodenschiffe am Kai gegenüber war noch da, die einmastige Tjalk unter deutscher Flagge. Die Niederländer hatten längst in einem anderen Hafen festgemacht. Auf der Höhe des alten Rettungsschuppens, in dem einst das Boot der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger auf mögliche Einsätze gewartet hatte, konnte er zwei Menschen ausmachen, die an Bord der Tjalk standen. Greven bemerkte sie zwar, richtete sein Augenmerk jedoch auf das Schiff und die Takelage. Als sein Blick über die Aufbauten glitt, blieb er unvermittelt doch an den beiden hängen. Zwei Frauen. Die rechte sah aus wie Aline. Er wählte den Weg durch den Hafenkieker , die kleine Hafenkneipe, steppte die paar Stufen hinunter, grüßte den Wirt und suchte die vor ihm liegenden Kutter ab. An Bord der Jan Rasmus wurde er fündig. Alfred Gosselar. Ein vertrautes Gesicht seit Grundschulzeiten. Ohne zu fragen, ging er an Bord.
»Moin, Alfred, hast du zufällig dein
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