Knochenerbe
wusch meine Brille im Waschbecken. Während sie trocknete, baute ich mich mit zusammengekniffenen Augen vor dem Kleiderschrank auf und richtete meinen kurzsichtigen Blick auf dessen Inhalt. Was trug die Freundin des Priesters am Sonntag in der Kirche? Wahrscheinlich nichts Kurzärmliges, aber für lange Ärmel war mir einfach zu heiß. Griesgrämig schob ich Kleiderbügel hin und her. Die Freundin des Priesters … vielleicht nicht gerade flott, aber doch keck und munter, allerdings auf bescheidene Art? Oder war ich mit meinen fast dreißig Jahren für keck und munter schon zu alt?
Mit meinem Erbe konnte ich mir an Kleidern zulegen, wonach mir der Sinn stand – beim bloßen Gedanken daran wurde mir schwindelig. Aber was half mir das jetzt? Ich musste mir einen Ruck geben, um wieder zum real existierenden Aufkommen in meinem Kleiderschrank zurückzukehren. Was hatte er zu bieten? Ein ärmelloses, dunkelblaues Hemdblusenkleid mit aufgedruckten, großen, weißen Blumen. Das Kleid hatte einen ausgestellten Rock, einen weißen Kragen und einen ebensolchen Gürtel. Dazu meine weiße Handtasche und die weißen Schuhe – perfekt.
Fertig angezogen und geschminkt setzte ich mir die Brille auf und schaute mich im Spiegel an. Die Lockenwickler hatten meine Haare so weit gebändigt, dass sie konventionell genug wirkten, die weißen Schuhe streckten meine Beine. Allerdings war es die Hölle, darin zu laufen, wahrscheinlich verrauschte meine Toleranz den hohen Hacken gegenüber bereits mit dem Ende des Gottesdienstes. Vorsichtig stöckelte ich durch die Hintertür, durchquerte meinen kleinen Garten und schlüpfte durch das Tor im Zaun zu meinem Auto, das unter dem langen Schutzdach für die Wagen sämtlicher Mieter parkte. Ich entriegelte die Fahrertür und riss sie auf, um Hitze entweichen zu lassen, die sich im Auto aufgestaut hatte. Erst eine Minute später wagte ich es, einzusteigen. Gleich nach dem Motor sprang auch die Klimaanlage an, ein Segen, hatte ich doch zu hart an meinem äußeren Erscheinungsbild gearbeitet, um schweißgebadet in der Episkopalkirche auflaufen zu wollen.
Dort ließ ich mir von einem der Platzanweiser das Liedblatt für den Gottesdienst aushändigen und suchte mir einen Platz in wohlkalkuliertem Abstand zur Kanzel. Vom anderen Ende der Sitzreihe her beäugte mich ein Paar mittleren Alters mit sichtlichem Interesse und warf mir sogar ein Willkommenslächeln zu. Ich erwiderte das Lächeln, ehe mich die Anweisungen des Merkblattes in Bezug auf Gesang- und Gebetbuch vollständig in Anspruch nahmen. Ein lauter Akkord der Orgel signalisierte den Auftritt von Priester, Messdiener, Diakon und Chor, woraufhin ich mich mit dem Rest der Gemeinde erhob.
Der Anblick Aubreys in Priesterrobe war umwerfend und versetzte mich in einen berauschenden Tagtraum, in dem ich mich als Ehefrau eines Priesters sah. Dass mich der Mann geküsst hatte, der hier gerade den Gottesdienst leitete, fühlte sich sehr merkwürdig an. Danach war ich eine Weile zu sehr mit dem Gebetbuch beschäftigt, um weiter an Aubrey denken zu können. Eins musste man den Episkopalen lassen: Bei deren Gottesdienst schlief nur, wer die Kunst des Sekundenschlafes beherrschte. Wir mussten aufstehen und uns wieder setzen oder hinknien, wir mussten unseren Nachbarn die Hand schütteln, mit dem Priester im Wechsel Gebete sprechen und an den Altar treten, um das Abendmahl zu empfangen. Es war ein sehr wuseliger Gottesdienst, keine Sportveranstaltung, bei der man sich aufs Zuschauen beschränken kann, wie in manchen anderen Kirchen. Ich konnte das beurteilen, denn ich war schon in jeder Kirche in Lawrenceton gewesen, bis auf vielleicht die eine oder andere rein schwarze.
Der Predigt versuchte ich mit großer Aufmerksamkeit zu lauschen, da Aubrey sicher später einen Kommentar von mir verlangen würde. Zu meiner großen Freude durfte ich feststellen, dass es sich um eine hervorragende Predigt handelte. Aubrey würzte sie geschickt mit Betrachtungen über das Geschäftsleben, das seiner Meinung nach ebenso mit religiösen Überzeugungen übereinzustimmen hatte wie unser persönliches Leben, und verwendete keinen Vergleich aus der Sportwelt. Als ich nach vorn ging, um mir von Aubrey die Oblate in die Hand drücken zu lassen, versuchte ich, nur an Gott und nicht an seinen Priester zu denken.
Während wir die Betschemel hochklappten, auf denen wir gekniet hatten, entdeckte ich eins der Paare, mit denen sich Aubrey in der Schlange vor der Kinokasse unterhalten
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