Knochenerbe
seinem Auto und schien auf Verstärkung zu warten. Macon stand am Ende der Asphaltdecke und musterte die Knochen. Die Arbeiter rauchten und tranken Cola.
„Du hast Kätzchen? Darf ich die mal sehen?“ Zum ersten Mal wirkte Lynn richtig belebt.
„Klar.“ Ich war verblüfft – bis mir klar wurde, dass sich Lynn in ihrem Zustand für Babys in jeglicher Form und Farbe interessierte.
Die Kätzchen waren aktiver als am Tag zuvor. Von Madeleine mit königlichem Stolz überwacht purzelten sie übereinander, die Augen immer noch fest geschlossen. Eins war kohlpechrabenschwarz, die anderen weiß und orange wie die Mutter. Bald hatten sie keine Energie mehr, dockten zum Saufen an und schliefen satt und zufrieden ein. Lynn ließ sich vorsichtig auf den Boden nieder und sah ihnen zu. Aus ihrer Miene ließ sich nichts ablesen. Ich ging in die Küche, um Madeleine frisches Futter hinzustellen, und wechselte bei der Gelegenheit auch das Katzenstreu. Nachdem ich mir die Hände gewaschen, einen großen Schluck Limonade getrunken und fast den ganzen Hamburger verzehrt hatte, kehrte ich ins Schlafzimmer zurück, wo Lynn immer noch ganz in den Anblick der kleinen Katzen versunken war.
„Hast du gesehen, wie sie zur Welt kamen?“, fragte sie.
„Ja.“
„Sah es aus, als würde es ihr wehtun?“
„Es sah auf jeden Fall nach harter Arbeit aus“, sagte ich wachsam.
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. „Naja, darauf bin ich eingestellt.“ Sie gab sich Mühe, halbwegs gleichmütig zu wirken.
„Bist du zu Geburtsvorbereitungskursen gegangen?“
„Ja, klar, und jeden Abend machen wir unsere Atemübungen“, sagte sie wenig begeistert.
„Glaubst du nicht, dass die helfen werden?“
„Ich habe keine Ahnung. Weißt du, was mir Angst macht?“
„Was?“
„Niemand sagt einem was.“
„Zum Beispiel?“
„Keiner. Es ist total bescheuert. Ich will wirklich wissen, was mir bevorsteht. Also habe ich meine beste Freundin gefragt, die hat schon zwei Kinder, und was sagt die? ‚Wenn du sie erst mal im Arm hältst, hat alle Mühe sich gelohnt.’ Was ist das denn für eine Antwort? Also erkundige ich mich bei einer anderen Frau, die ihr Kind auch ohne Betäubung bekommen hat, und was sagt die? Ach, du vergisst alles, sobald du das Kind siehst!’ Das ist doch auch keine Antwort – und meine Mutter haben sie außer Gefecht gesetzt, als ich zur Welt kam, das war damals so Sitte. Also kann sie mir auch nichts erzählen und selbst wenn, würde sie es wahrscheinlich nicht tun. Es gibt da scheinbar eine Verschwörung unter Müttern.“
Darüber musste ich erst einmal nachdenken. „Ich kann dir keine konkreten Fragen beantworten“, sagte ich schließlich. „Aber wenn ich es könnte, würde ich dir die Wahrheit sagen.“
„Es wird umgekehrt laufen“, sagte Lynn. „Ich sage dir die Wahrheit, und zwar wahrscheinlich schon bald.“
Als ich das Haus verließ, um wieder zur Arbeit zu fahren, standen in Macon Turners Auffahrt zwei Polizeiautos, und der Pick-up der Stadtwerke war verschwunden. Dass der Rest des Skelettes aufgetaucht war, war für mich eine große Erleichterung. Nun würde sich die Polizei um die Identität des Toten kümmern. Vielleicht reichten die verbliebenen Gebeine ja zur Identifizierung? Ich versprach dem Schädel im Stillen, ihm ein angemessenes Begräbnis zukommen zu lassen, falls die gefundenen Knochen ausreichend Auskunft gaben.
Ein Standpunkt, der moralisch eigentlich kaum zu vertreten war, dessen war ich mir durchaus bewusst.
An diesem Abend klingelte es, als ich gerade die Schuhe abgestreift und meine Strumpfhose heruntergerollt hatte. Hastig stieg ich ganz aus der Strumpfhose, schob sie unter den Sessel, schlüpfte mit nackten Füßen in die Schuhe und ging an die Tür, ein schweißtriefendes, zerknittertes Häuflein Elend mit Kopfschmerzen und schlechtem Gewissen.
Jack Burns gelang es mühelos, meinen Türrahmen ganz auszufüllen. Wie immer ließ sein Anzug einen nicht unerheblichen Polyesteranteil erahnen, und er trug lange Koteletten ä la Elvis, aber beides vermochte nicht von dem steten Strom der Bedrohung abzulenken, der von dem Mann ausging. Burns war so daran gewöhnt, andere in Angst und Schrecken zu versetzen, dass es ihm höchstwahrscheinlich gar nicht mehr bewusst war.
„Darf ich reinkommen?“, fragte er sanft.
„Klar!“ Ich trat ein wenig zur Seite.
„Ich bin hier, um Sie nach den Knochen zu befragen, die heute in der Honor Street gefunden wurden.“ Noch lief
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