Knochenerbe
Zeitungslektüre in der Küche bequem zu machen. Kaum hatte ich den Leitartikel überflogen („Sewell fordert Amtsinhaber heraus!“) und suchte nach den Comics, als ich unterbrochen wurde.
Seufzend ging ich ans Telefon, überzeugt, dass der Anruf schlechte Neuigkeiten bringen würde. So war ich angenehm überrascht, als sich am anderen Ende der Leitung Aminas Mutter meldete. Leider entpuppten sich meine ursprünglichen Vorahnungen dann doch als korrekt.
„Guten Morgen, Aurora! Hier Joe Neil Day.“
„Hi, Miss Joe Neil. Wie geht es Ihnen?“ Amina nannte meine Mutter heldenhaft „Miss Aida“.
„Sehr gut, danke, Süße. Hör zu, Amina hat mich gestern angerufen. Sie wollen den Hochzeitstag vorverlegen.“
Mit einem Schlag war mir ganz elend. Nun ging es wieder los. Aber da ich Aminas Mutter meine Gefühle auf keinen Fall anvertrauen durfte, zwang ich mich zu einem strahlenden Lächeln, damit sie mir den Trübsinn nicht anhörte. „Miss Joe Neil, die beiden sind alt genug, um zu wissen, was sie tun!“, zwitscherte ich fröhlich.
„Das kann ich nur hoffen!“ Die Antwort war von einem tiefen Seufzer begleitet. „Noch eine Scheidung – das soll meine Amina nicht durchmachen müssen.“
„Nein, das wird nicht passieren“, versprühte ich Zuversicht, die ich nicht empfand. „Diesmal ist es der Richtige.“
„Darum lass uns beten“, sagte Miss Joe Neil ernst. „Aminas Vater ist mit den Nerven am Ende. Wir kennen den jungen Mann noch nicht einmal.“
„Aber den ersten Mann mochten Sie doch“, sagte ich. Amina würde immer jemanden Nettes heiraten, das Problem war nur, dass es später zwischen den beiden nicht nett blieb. Wie hieß der Neue gleich? Hugh Price. „Amina hat so gut von Hugh gesprochen, sie wusste so viele positive Dinge über ihn zu erzählen.“ Laut Amina sah Hugh außerordentlich gut aus, war ausnehmend reich und unglaublich gut im Bett. Hoffentlich war er kein unfassbarer Blender. Ich hoffte, dass Amina diesen Mann wirklich liebte – ob er umgekehrt Amina liebte, war mir weniger wichtig. Amina zu lieben schien mir einfach, liebte ich sie schließlich doch auch.
„Na ja, Amina und Hugh haben beide schon eine Ehe hinter sich, sind sozusagen Veteranen an der Scheidungsfront. Hoffen wir, dass sie diesmal wissen, was sie wollen. Aber weswegen ich anrufe, Aurora: Wenn der Hochzeitstermin jetzt näher rückt, solltest du bald mal vorbeikommen und dein Kleid aussuchen. Du bist doch Brautjungfer.“
„Bin ich die einzige?“ Hoffentlich sagte sie ja: Ich wollte so gern etwas Persönliches tragen statt einer Einheitstracht, die an fünf oder sechs weiblichen Wesen unterschiedlicher Bauart und widerstreitender Teints gut aussehen sollte, was natürlich ein Ding der Unmöglichkeit war.
„Ja“, sagte Miss Joe Neil mit unüberhörbarer Erleichterung. „Amina will, dass du herkommst und dir aussuchst, was immer du willst, solange es zu ihrem Kleid passt. Das ist mintgrün.“
Kein weißes Kleid? Ich war überrascht. Da Amina vorhatte, Einladungen zu verschicken und mit einer großen Feier zu kompensieren, dass ihre letzte Hochzeit so eine verhuschte Angelegenheit gewesen war, hatte ich gedacht, sie würde aufs Ganze gehen. Gut zu wissen, dass sie die Affäre offenbar ein wenig herunterzuschrauben gedachte.
„Klar, ich muss heute nicht zur Arbeit“, sagte ich. „Ich könnte gleich heute Morgen vorbeikommen.“
„Das ist ja fabelhaft! Dann sehen wir uns bald.“
In solchen Fällen ist es günstig, wenn die Brautmutter Boutiquenbesitzerin ist. Ganz sicher ließ sich bei Great Day etwas Passendes finden, und wenn nicht, würde Miss Joe Neil schon etwas für mich auftreiben.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer, wo ich mich anziehen wollte, öffnete ich aus einem spontanen Impuls heraus die Tür zu meinem zweiten oberen Zimmer, dem Gästezimmer. Mein Halbbruder Phillip, der früher manchmal ein Wochenende bei mir verbracht hatte, war der einzige Gast, der je darin genächtigt hatte. Nun lebte er weit weg von hier, in Kalifornien. Seine Mutter und sein Vater hatten ihn so weit wie möglich von mir und Lawrenceton fortschaffen wollen, damit er vergessen konnte, was ihm hier widerfahren war. Was ihm widerfahren war, als er das Wochenende bei mir verbrachte.
Ich verdrängte den Schmerz und die mir nur allzu vertrauten Schuldgefühle, die mich beim Gedanken an Phillip immer noch überkamen, und öffnete den Kleiderschrank des Gästezimmers. Hier bewahrte ich Kleider auf, die ich nicht in
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