Knochenfinder
wäre das die entscheidende Spur zu René. »Hanke, was gibt es bei dir? Ich hab gehört, dass du dir Verstärkung besorgt hast. Das war gut, denn wir brauchen dringend noch jemanden, der sich mit Computern auskennt und hinter die Kulissen schauen kann.«
Hanke setzte sich aufrecht und verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch. »Ich habe mir gezielt Kim Schröder ausgesucht. Sie ist ziemlich fit, wollte eigentlich mal Informatik studieren. Außerdem hat sie die Nachtschicht gemacht und sich stundenlang die Gewaltvideos von den beiden Schülern angesehen. Wenn sie danach noch schlafen kann, dann haut sie bestimmt nichts mehr um ...«
Winterberg dachte an die Bilder auf Niklas’ Rechner und fragte sich, was Kim Schröder wohl für eine Persönlichkeit haben mochte. Wie konnte man sich so etwas schadlos stundenlang anschauen, noch dazu als Frau nachts allein in einem Büro?
»Sagt euch Happy Slapping etwas?«, fragte Hanke.
Während Schmitz nur nickte, erwiderte Lorenz: »Du meinst diese Gewaltdarstellungen auf Handys. Wieder mal so ein toller Import aus England ...«
Während er weitersprach, wurde Winterberg gleichzeitig heiß und kalt, und ein vertrautes Ziehen setzte hinter seiner Stirn ein. Kopfschmerz kündigte sich an, und er hasste es, wenn sich sein Körper so sehr in den Vordergrund rückte. Happy Slapping. Natürlich wusste er, was das war. Vor etwa zwei oder drei Jahren waren Meldungen darüber durch die Presse gegangen, die einen neuen Trend der immer zügelloser werdenden Jugend beklagt hatte. Doch letztlich hatte niemand richtig herausgefunden, wie weit das Phänomen verbreitet war. Es wurde dann irgendwann als Medienereignis abgetan, nachdem sich alle Wichtigtuer zu Wort gemeldet und den Untergang der abendländischen Kultur angeprangert hatten.
Doch so einfach war es nicht – das wusste Winterberg nur allzu gut. Der Reiz, Verbotenes zu tun, war immer schon groß gewesen, und mit den neuen Medien kamen eben immer neue Verbote. Leider kamen in diesem Bereich die meisten Verbote viel zu spät: Wenn die Erwachsenen bemerkten, womit sich die Jugendlichen beschäftigten, war der Trend oft schon fast wieder vorbei. Sie hinkten den Entwicklungen einfach immer hinterher. Auch er als Vater hatte viel zu spät entdeckt, was sein Ältester tatsächlich am Computer tat ... Rasch schob er die aufkommenden Gedanken an Niklas beiseite und konzentrierte sich wieder auf das Gespräch der Kollegen.
»Ganz so simpel ist es mit dem Happy Slapping nicht«, entgegnete nun Hanke. »Das sind nicht bloß gewaltverherrlichende Filme, sondern man sucht sich ein x-beliebiges Opfer aus, schlägt es nieder und nimmt das mit der Handykamera auf. Und zwar mit Ton. Dabei spielt auch die Überraschung des Opfers eine Rolle. Diese Täter nehmen das Happy beim Slapping sehr ernst.«
»Du willst also damit andeuten, dass die beiden Jungs selbst aktiv geworden sind und sich gegenseitig dabei gefilmt haben«, sagte Lorenz. »Das macht die ganze Geschichte natürlich noch viel schlimmer.«
Aber Hanke schüttelte den Kopf und winkte mit seinem Zeigefinger ab. »Die Filme haben die zwei nicht selbst aufgenommen, sondern aus dem Internet runtergeladen und miteinander getauscht. Die haben also möglicherweise niemanden selbst verletzt, sondern nur diese Filme verbreitet.«
»Was schon den Tatbestand der Gewaltdarstellung erfüllt«, fügte Lorenz hinzu.
»Ja. Aber darum müssen wir uns zum Glück nicht kümmern. Ich habe gestern Abend schon mit der Staatsanwältin telefoniert. Dr. Kraft kümmert sich darum und setzt sich erst mal mit den Eltern in Verbindung; das läuft also schon. Wir können jetzt gezielt gucken, inwiefern René auch mit dem Happy Slapping zu tun hat oder ob es noch mehr gibt, von dem wir bisher nichts wissen. Das blutverschmierte T-Shirt liefert ja einen guten Hinweis.«
In Winterbergs Kopf schien sich auf einmal alles zu drehen; er konnte dem Gespräch seiner Kollegen nicht mehr recht folgen. Sie sprachen mit solch einer kalten Selbstverständlichkeit über das, was die Jungs da machten, dass ihm übel wurde. Er versuchte, das Gehörte nicht an sich heranzulassen. Trotzdem tauchten immer wieder diese Bilder von Niklas’ Computer vor seinem inneren Auge auf. Happy Slapping. War das ein möglicher Zugang zu seinem Sohn? Sollte er damit das Gespräch beginnen, das er bisher erfolgreich vermieden hatte? Doch hier und jetzt musste er erst einmal dem Gespräch eine andere Wendung geben, damit er weiterhin die
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