Knochenfinder
blondierten Pony. »Ich wollte mich schließlich nicht mehr mit ihm treffen, aber er rief immer wieder bei mir an. Zuerst auf dem Handy, später auch bei meinen Eltern. Das war mir echt peinlich, und mein Vater hat ihm irgendwann am Telefon die Meinung gesagt. Danach war Ruhe. In der Schule bin ich ihm aus dem Weg gegangen und habe ihm die kalte Schulter gezeigt, wenn er mir zu nahe gekommen ist. Ich glaube, er hat es dann kapiert.«
»Wie lange ist das her?«
Nina zuckte mit den Schultern und kratzte mit dem Zeigefinger am Saum ihres Tops, als wollte sie einen Fleck entfernen.
»Vier Wochen ungefähr. Nächsten Montag haben Marvin und ich unser Einmonatiges, und meine Treffen mit René hörten kurz vorher auf.«
»Und was ist mit dem Brief?«
»Ach, ich weiß es doch nicht! Ich hab den Brief zerrissen, die Schnipsel in die Küchenspüle geschmissen und verbrannt. Ich wollte doch nichts mehr mit ihm zu tun haben! Wenn ich gewusst hätte, dass dieser Brief so wichtig ist, hätte ich ihn bestimmt gelesen! Aber das konnte ich doch nicht ahnen. Ich wollte einfach nur, dass er mich in Ruhe lässt!« Sie sprang auf, die Creolen wackelten hin und her und ließen sie hektisch wirken. »Sind wir hier endlich fertig? Ich muss noch für Englisch lernen.«
»Gleich. Setz dich bitte. Erzähl mir was über seine Freunde. Wer ist in seiner Clique?«
Nina zog eine übertrieben genervte Grimasse, setzte sich aber wieder. »René ist in keiner Clique. Er ist einer von diesen Typen, die immer nur dabeistehen und nichts sagen. Keine Ahnung, ob der von den anderen so richtig wahrgenommen wird. Wenn Sie mich fragen: Den meisten ist es egal, ob er da ist oder nicht.«
»Aber ihr habt euch doch eine ganze Weile gut verstanden. Was hat dir an René gefallen?«
Nina stützte das Kinn auf die rechte Faust und starrte wieder aus dem Fenster. Doch diesmal antwortete sie. »Ich weiß nicht genau. Mir hat irgendwie gefallen, dass er sich für mich interessiert hat. Außerdem sieht er nicht schlecht aus, obwohl ich mehr auf blonde Typen stehe.« Sie schwieg für mehrere Sekunden, als dächte sie das erste Mal über diese Frage nach. »Er hat sich wohl falsche Hoffnungen gemacht. Und dann wurde er komisch, und das war mir zu viel. Wenn er sich auch bei anderen so benimmt, verstehe ich, dass er keine richtigen Freunde hat – und erst recht keine Freundin. Dass keiner mit ihm so richtig spricht. Meinen Sie, er hat sich was angetan? Selbstmord?«
Ihr Blick unter dem Lidschatten wirkte distanziert, aber Natascha glaubte, auch einen Hauch von Mitleid in ihm zu entdecken.
»Wir wissen es nicht«, antwortete sie.
Nina rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne. »Ich muss jetzt wirklich nach Hause. Englisch ist nicht grad mein bestes Fach.«
»Okay. Danke, Nina. Ruf mich bitte an, falls dir noch irgendwas einfällt, auch wenn es dir unwichtig vorkommt.«
Natascha reichte ihr eine Visitenkarte, und Nina nahm sie mit spitzen Fingern.
»Ja, mach ich.« Sie blickte kurz auf die Karte und steckte sie achtlos in den riesigen Beutel, den sie am Handgelenk trug.
Natascha bezweifelte, dass die Karte jemals wieder zum Vorschein kommen würde.
Nina Achenbach verließ entschlossen das Büro. Sie hinterließ eine Wolke süßlichen Parfums, die vor Nataschas innerem Auge eine pinkfarbene Kugel bildete.
Natascha dachte darüber nach, was sie heute über René Staudt erfahren hatte. Der Junge wurde von seinen Eltern vernachlässigt und war offenbar ein Einzelgänger, der es nicht verstand, mit Gleichaltrigen engere Kontakte zu knüpfen.
Plötzlich hatte sie Angst um den Jungen.
Kapitel 8
Bilderfetzen wirbelten im Nebel, entzogen sich dem Traumbewusstsein und verschwanden schließlich im Dunkel. Und auf einmal ein unablässiges Schrillen. Natascha drehte sich auf die andere Seite, aber das Geräusch blieb. Sie streckte die Hand aus und tastete nach dem Knopf des Weckers; als sie ihn fand, trat eine herrliche Stille ein. Im nächsten Moment kündigte ein leichter Druck auf Oberschenkel, Rücken und Schultern Besuch an. Sie hob die Bettdecke, und ein warmer Körper schmiegte sich an sie.
»Fritz.« Im Halbschlaf kraulte sie das weiche Fell des Katers, rieb mit der Nase über den warmen Rücken und atmete Wildnis ein. Schon als Dreijährige hatte sie sich eine Katze gewünscht. Damals war sie fest davon überzeugt gewesen, dass ihr das Christkind eines Tages eine rotgetigerte Katze unter den Weihnachtsbaum setzen würde. So eine wie Garfield. Doch sie wurde
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