Knochenfinder
jedes Jahr aufs Neue enttäuscht. Und irgendwann hatte sie verstanden, dass das Christkind die Meinung ihrer Mutter teilte, die nichts von Tieren im Haus hielt, und ihr niemals die heiß ersehnte Katze bringen würde.
Als sie an ihrem Umzugstag nach Siegen mit dem Möbeltransporter die Autobahn verlassen hatte, war ihr Blick als Erstes auf ein Gebäude mit bogenförmigem Dach und einem großen Gitter an der Straßenseite gefallen. Ein Tierheim. Kaum waren die Schränke aufgebaut und der Kühlschrank angeschlossen, fuhr sie mit einem neuen Katzentransportkorb auf dem Beifahrersitz dorthin. Doch leider gab es im ganzen Tierheim keinen rotgetigerten Garfield. Aber man nannte ihr eine Adresse vom Katzenschutzverein, und weil sie ausnahmsweise ein Auto hatte, fuhr sie auch dort noch hin. Kaum hatte sie das Gebäude betreten, bemerkte sie einen weißen Kater: Er hatte den Kopf zur Seite geneigt und schaute sie eindringlich an.
»Das ist Elliot, der gehört schon fast zum Inventar. Leider finden wir niemanden, der ihn aufnehmen möchte«, erzählte der Katzenpfleger. Als das Tier mit seltsam unregelmäßigen Schritten in die Küche schlenderte, erkannte Natascha, weshalb keiner es haben wollte. Elliot hatte nur drei Beine.
»Ein Unfall«, erklärte der Pfleger, als sie ihn darauf ansprach. »Elliot wurde von einem Auto angefahren, aber er kommt ganz gut mit seiner Behinderung zurecht. Man merkt gar nicht, dass sein rechtes Hinterbein fehlt.«
Wie zur Bestätigung maunzte der Kater und hoppelte mit erhobenem Schwanz zum Futternapf.
In diesem Moment waren alle rotgetigerten Garfields vergessen. »Den will ich, der erinnert mich an meinen Opa Fritz. Der hatte schlohweißes Haar, und ihm fehlte ebenfalls ein Bein. Er war ein Kriegsversehrter. Trotzdem ist er einer der lustigsten Menschen gewesen, die ich gekannt habe.«
Zwei Tage später zog der Kater mit den drei Beinen in ihre neue Wohnung ein und wurde ihrem Großvater zu Ehren in Fritz umbenannt. Er eroberte Sofa, Bett und Schreibtischstuhl, noch bevor Natascha den Möbeln einen festen Platz zugeteilt hatte.
Und seither gehörte es zum morgendlichen Ritual der beiden, dass Fritz nach dem Klingeln des Weckers unter ihre Decke kroch.
Natascha reckte sich. Nur langsam kehrte die Kontrolle über ihre Körperbewegungen zurück, und sie blieb einen Moment auf der Bettkante sitzen. Traumreste hingen in den Nischen ihres Gedächtnisses und erinnerten sie an den vergangenen Tag. An den verschwundenen Jungen und die Gespräche mit den Eltern und der vermeintlichen Freundin. Schließlich schlurfte sie ins Badezimmer und stellte sich unter die Dusche. Das lauwarme Wasser prasselte auf sie ein und spülte die Müdigkeit ab.
Beim Frühstück nahm sie sich vor, nicht an den bevorstehenden Dienst zu denken, nicht an den Jugendlichen und auch nicht an den Stapel Akten auf ihrem Schreibtisch, deren Bearbeitung sie schon viel zu lange vor sich herschob. Doch die Bilder in ihrem Kopf waren stärker. Sie ließ den Besuch bei Renés Eltern noch einmal Revue passieren, sah die bleiche, verzweifelte Mutter und den massigen Vater, der immer wieder versuchte, seine Frau zu beruhigen. Und sie erinnerte sich an das, was Nina ihr erzählt hatte. Dass René ihr unheimlich war, weil er sich wie ein Stalker verhalten hätte ...
Natascha rief sich wieder in Erinnerung, dass sie nicht an den Fall denken wollte. Noch saß sie zu Hause an ihrem Frühstückstisch und sollte wenigstens diesen einen Cappuccino in Ruhe trinken, bevor es auf der Wache wieder rund ging. Sie dachte kurz an Simon Steinhaus, den Kollegen von der Abteilung für Gefahrenabwehr und Strafverfolgung, der GS 4. Natascha nahm die Tasse Cappuccino und hielt sich das dampfende Getränk dicht vors Gesicht, sog den Duft von Instant-Urlaubsträumen ein. Eigentlich war er ja ganz nett, und bestimmt tauchte er nicht immer nur zufällig in ihrer Nähe auf. Sie schmunzelte und hing ihren Gedanken nach, bis die Tasse leer war.
Anschließend eilte sie ins Bad und legte ausnahmsweise Wimperntusche auf. Natürlich nur dezent. Fritz saß auf dem Badewannenrand und blickte verwundert zu ihr hoch.
Kapitel 9
»Hoffentlich stimmt unsere Berechnung. Ich mag die Chiffriercodes und Zahlenrätsel nicht; Wandercaches gefallen mir viel besser.«
Jonas Schneider stapfte hinter seinem Mitbewohner Timo her, der mit dem GPS-Gerät in der Hand einem gekennzeichneten Wanderweg folgte. Doch Timo ignorierte seinen Versuch, das Gesprächsthema zu wechseln, und
Weitere Kostenlose Bücher