Knochenfinder
Spuren in der Dose nach zu urteilen, waren die Finger jeweils mehr als vierundzwanzig, eventuell bis zu achtundvierzig Stunden drin.«
»René wurde Freitagmittag zuletzt gesehen. Wir gehen jetzt erst mal davon aus, dass er da noch unverletzt war. Also fand die Daumenamputation frühestens am Freitagnachmittag statt. Der Zeigefinger wurde am Dienstagvormittag gefunden, und wenn er so lange in der Dose lag, wie du gesagt hast, dann wurde er irgendwann zwischen Sonntagmorgen und Montagvormittag amputiert. Wenn wir die Zeit zwischen beiden Taten hinzunehmen, dann muss der Daumen ungefähr am Samstagvormittag amputiert worden sein.«
Winterberg atmete laut aus. »Das ist alles sehr, sehr vage. Kriegt ihr das nicht doch noch genauer hin?«
Schmitz sah ihn tadelnd an. »Du weißt genau, dass wir uns dann in den Bereich von unseriösem Kaffeesatzlesen begeben. Tut mir leid, dass es nicht konkreter geht.«
»Ja, schon gut. Trotzdem danke, Schmitz.«
»Noch was: Die Verwesung hat wesentlich langsamer begonnen, als sie später voranschritt. Die Ärztin aus der Rechtsmedizin tippt auf sachgemäße Lagerung kurz nach der Amputation, auf Kühlung und dergleichen. Später wurde der Verwesungsprozess beschleunigt – vor allem beim Daumen –, wahrscheinlich durch Organismen, die sich in den Dosen befanden.« Es klang, als wollte Schmitz die unkonkreten Angaben wiedergutmachen.
»Na, das ist ja immerhin etwas«, meinte Lorenz, der versuchte, die neuesten Entwicklungen in ihrem Fall aus einer optimistischen Perspektive zu betrachten. »Jetzt wissen wir genau, dass René das Opfer einer Entführung geworden ist und wir nur nach ihm suchen müssen. Außerdem können wir hoffen, dass ihm nicht noch Schlimmeres passiert ist.«
Natascha wollte nicht darüber nachdenken, was da noch Schlimmeres kommen könnte.
»Schickst du uns die Unterlagen aus der Rechtsmedizin, wenn du sie komplett hast?«, fragte Winterberg den Kriminaltechniker.
Schmitz nickte. Er ging wieder in den Bus zurück und begann, die Asservate in einem Koffer zu verstauen. »Klar. Ich hoffe, dass die heute noch kommen. Die Ärztin hat es mir jedenfalls versprochen.«
Winterberg ging zurück zu der Fundstelle, die in der Zwischenzeit abgesperrt worden war. Natascha folgte ihm. Ein weiterer Mitarbeiter der Kriminaltechnik war damit beschäftigt, Spuren zu sichern. Er beugte sich über das Absperrband und pickte Fasern, Fusseln und andere winzige Objekte aus den Himbeersträuchern.
»Fahren wir jetzt zu Renés Eltern?«, erkundigte sich Natascha und nahm ihren Rucksack von den Schultern. Sie hatte einen unglaublichen Durst, die Hitze und die Anspannung machten ihr zu schaffen. Winterberg erging es nicht anders; er hatte Flecken unter den Achseln und einen glänzenden Schweißfilm im Gesicht. Sie bot ihm ihre Wasserflasche an, doch Winterberg hob abwehrend die Hand.
»Ich hab selbst Wasser im Auto«, sagte er. »Zu Staudts fahren wir in einer halben Stunde, das ist ja quasi gleich um die Ecke hier. Ich muss mich noch einmal um die Suchmannschaften kümmern. Jetzt ist wirklich Eile geboten!«
Er nahm das Handy aus der Tasche, doch bevor er eine Nummer wählen konnte, klingelte es. Radar love von Golden Earring war zu hören. Es passte zu Winterberg.
Er wandte sich zum Telefonieren von ihr ab, ging ein paar Schritte in Richtung Grillhütte und blieb stehen. Bewegungslos hörte er dem Anrufer zu, kratzte sich an der Stirn und begann, im Kreis zu laufen. Er wirkte mit einem Mal grau und irgendwie eingefallen. Natascha überlegte, ob es etwas mit dem Alter zu tun hatte. Oder mit der Hitze.
Sie setzte sich in den Schatten der Bäume und betrachtete das Geschehen auf dem Platz: die Kriminaltechniker und ihren Bus, die uniformierten Beamten mit Funkgeräten und Absperrbändern. Einige von ihnen suchten an den Baumwurzeln, ob sie nicht doch noch etwas Auffälliges fanden. Die Hitze waberte in durchsichtigen Schlieren über den Autodächern. Über all dem Lärm, den die Polizisten hier verursachten, lagen die Geräusche des Waldes: Vogelgezwitscher, ab und zu ein Knacken im Gehölz, das Klopfen eines Spechts. Ein farbiges Bild schob sich vor Nataschas inneres Auge – ein Zeichen dafür, dass ihre Sinne offen waren, dass ihre Synästhesie ihr Eingebungen schenken konnte. Rote Wellenbewegungen und grüne Kugeln wogten umeinander, im Hintergrund gab es grellgelbe, beißende Blitze. Natascha seufzte. Manchmal wünschte sie, die Bilder festhalten zu können, um sie später zu
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