Knochenfinder
Hände. Tränen rannen über ihre Wangen, rote Flecken breiteten sich dort aus. Sie kniff die Lippen zusammen, bevor sie weitersprach. »Ein T-Shirt. Es lag zusammengeknüllt unter dem Bettlaken. Am Fußende. Und es war völlig blutverschmiert.« Sie schloss die Augen.
»Wie, blutverschmiert?« Michael Staudt starrte sie an. »Was meinst du damit?«
»Überall war getrocknetes Blut! Hier ...« – sie rieb sich über den Brustkorb und über den Saum ihres Shirts – »... und hier.«
»Was haben Sie mit dem T-Shirt gemacht?« Natascha hoffte, dass sie es aufgehoben hatte, auch wenn das unwahrscheinlich war.
»Ich habe es wieder unter das Bettlaken geschoben und hab das Bett dann auch nicht frisch bezogen. Ich hab einfach alles so gelassen, wie es war. Damit René nicht merkt, dass ich das gefunden habe.« Sie senkte den Kopf und sah Natascha von unten an. »Das war falsch, ich weiß. Ich hätte ihn einfach darauf ansprechen müssen!« Ihre Stimme brach.
»Haben Sie das Shirt danach noch einmal gesehen? Liegt es in Renés Zimmer, oder war es in der Wäsche?«
Doch Karin Staudt schüttelte den Kopf. »Am nächsten Tag wollte ich noch einmal gucken. Vielleicht hätte ich ja dann mit ihm darüber geredet. Aber das T-Shirt war weg. Er hat es bestimmt weggeworfen, aber nicht in unsere Mülltonne.« Sie warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu. »Ich hab nachgeguckt, aber es war nicht in der Tonne.«
»Haben Sie eine Idee, was das bedeuten könnte? War es vielleicht Renés Blut?«, fragte Winterberg.
Staudt starrte nur noch seine Frau an; es hatte ihm die Sprache verschlagen.
Karin Staudt stand auf und ging vor dem Tisch auf und ab. »Ich weiß es nicht. Ich habe lange darüber nachgedacht und immer wieder überlegt, ob ich das ihm gegenüber ansprechen soll. Aber gemacht habe ich nichts. Wenn ich nur was gesagt hätte – vielleicht wäre René dann nichts passiert!« Sie hob verzweifelt die Hände vors Gesicht und ließ sich auf die Knie fallen. Ihr Mann sprang auf und griff ihr unter die Achseln, um ihr aufzuhelfen. Doch sie blieb auf dem Teppich hocken und schüttelte ihn unwirsch ab. »Lass mich! Du sollst mich nicht wie eine Irre behandeln!«
Die beiden gaben ein absurdes Bild ab. Karin Staudt saß völlig niedergeschmettert auf dem Teppich; ihr Mann stand wie unter Schock daneben und sah die beiden Polizisten Hilfe suchend an.
Winterberg stand auf, nahm Michael Staudt am Arm und führte ihn zum Sessel zurück. »Setzen Sie sich bitte. Meine Kollegin bringt Ihnen ein Glas Wasser. Ich werde mit einem Kollegen sprechen, der sehr viel Erfahrung mit Menschen in außergewöhnlichen Situationen hat. Wenn es Ihnen recht ist, wird er sich bei Ihnen melden und Ihnen Gespräche anbieten. Wenn Sie das nicht möchten, können Sie ihm das auch gern sagen. Er versteht das gut.«
Natascha ging in die Küche, um für die beiden Wasser zu holen. Anders als das Wohnzimmer sah die Küche noch einigermaßen aufgeräumt aus. Auch hier roch es nach Zigarettenrauch, allerdings nicht so stark. Renés Eltern taten ihr leid. Sie mussten sich fürchterliche Vorwürfe machen. Anfangs war Natascha empört über sie gewesen, weil sie ihren Sohn offensichtlich vernachlässigten, und hatte es irgendwie verstanden, dass René es hier nicht mehr aushielt. Aber die Situation hatte sich verändert. Die Eltern gaben sich zumindest teilweise die Schuld für das, was ihrem Sohn passiert war. Wenn sie am Freitagmorgen sofort bemerkt hätten, dass René fortgelaufen war ... vielleicht wäre er dann schon längst gefunden worden – möglicherweise sogar unverletzt, wenn die Amputationen tatsächlich am Samstag begonnen hatten. Aber erst seit Montag hatten sie einen Hinweis darauf, dass eine Gefährdung von Leben oder Gesundheit vorliegen könnte.
Natascha nahm zwei Gläser aus dem Küchenschrank, füllte sie mit Leitungswasser und ging zurück ins Wohnzimmer. Mittlerweile saß auch Karin Staudt wieder im Sessel und wischte sich über das nasse Gesicht. Sie nahm das Wasser und trank es in einem Zug leer; ihr Mann nahm einen langsamen Schluck und hielt das Glas mit beiden Händen fest.
»Frau Staudt? Ich möchte gern noch einmal mit Ihnen über das T-Shirt mit dem getrockneten Blut reden.« Winterberg sprach sanft und leise. »Sehen Sie einen Zusammenhang zu Renés Verschwinden?«
Karin Staudt schniefte und holte ein zerknülltes Taschentuch aus ihrer Jeans. Sie schnäuzte sich laut und drückte das Tuch in ihrer rechten Faust zusammen. »Ich weiß
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