Knochenfunde
wärme es mir wieder auf.« Er würde sowieso nichts herun-
terbekommen. Essen war im Augenblick seine geringste Sorge. Das Grab. Der Bericht, der Eve zugeschickt worden war. George Capel.
Eves Auftrag in Baton Rouge. Alles passte zusammen.
Und das Bild, das sich daraus ergab, ließ ihn vor Angst fast er-starren.
»Er ist immer noch ziemlich hässlich, auch ohne die Stäbchen.«
Galen legte den Kopf schief und betrachtete den Schädel auf dem Sockel. »Vielleicht liegt es an den leeren Augenhöhlen.«
»Verschwinden Sie, Galen.«
»Kommt nicht in Frage. Es ist acht Uhr, und Sie arbeiten hier seit sechs Uhr heute früh. Zeit, Feierabend zu machen. Ich werde Sie nach Hause begleiten und Ihnen etwas kochen. Rick würde Sie glatt die ganze Nacht durch arbeiten lassen.«
»Ich bin noch nicht so weit.«
»Werden Sie ihn heute Abend fertig stellen?«
»Nein, auf keinen Fall. Ich habe noch gut vier Tage Arbeit vor mir. Vielleicht länger.«
»Dann sollten Sie sich lieber eine Ruhepause gönnen. Denn of-
fenbar besteht ja kein Grund zur Eile.«
»Es besteht allerdings Grund zur Eile.«
»Nicht für Sie. Melton kann warten.«
Galen verstand das einfach nicht. Wenn sie mit der Arbeit an einem Schädel begann, kam der Drang, sich zu beeilen, von innen. Es war, als würde der Mensch, dessen Gesicht sie rekonstruierte, sie dazu antreiben, als würde er ihr zuflüstern: Finde mich. Hilf mir.
Bring mich nach Hause.
»Welche Farbe?« Galen betrachtete immer noch die Augenhöh-
len. »Woher wissen Sie, welche Augenfarbe Sie ihnen geben müssen?«
»Ich weiß es nicht. Normalerweise nehme ich Braun. Das ist die häufigste Augenfarbe. Warum machen die Augenhöhlen Sie so nervös?«
»Ich kannte mal einen Mann in Mozambique, dem von einem
boshaften Kunden im Drogengeschäft die Augen ausgestochen worden waren. Er ist überraschend gut damit zurechtgekommen, aber mir lief jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn ich ihn gesehen habe.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Es hat mich ganz verrückt gemacht. Ich hasse Verstümmelun-
gen. Das sollte niemand einem anderen Menschen antun.«
Eve drehte sich zu ihm um. »So aufgebracht habe ich Sie ja noch nie erlebt.«
»Das ist auch besser so. Ich kann ziemlich ungemütlich werden.«
»Zum Beispiel gegenüber dem ›boshaften Kunden aus dem Dro-
gengeschäft‹?«
»Niemand sollte das einem anderen Menschen antun«, antwortete Galen ausweichend. Dann lächelte er. »Jetzt haben Sie’s geschafft.
Sie haben mich dazu gebracht, über diese Abscheulichkeit nachzudenken, und jetzt bin ich völlig deprimiert. Sie müssen also mitkommen, damit ich Ihnen ein gutes Essen bereiten und das alles vergessen kann. Das ist die beste Therapie.«
»Das ist Manipulation.« Sie deckte den Schädel mit einem Handtuch ab. »Aber diesmal lasse ich es durchgehen. Vielleicht bin ich ein bisschen müde.«
»Genau. Dann waschen Sie sich die Hände, damit wir gehen
können.« Galen trat ans Fenster und schaute auf den Bayou hinaus.
»Sie sollten sich Baton Rouge wirklich ein bisschen ansehen. Eine schöne Stadt.«
»Ich war am Tag von Maries Begräbnis mit Ihnen essen. Da hatte ich schon stundenlang Gelegenheit, mir Baton Rouge anzusehen.
Außerdem bin ich nicht hier, um Sightseeing-Touren zu machen.«
»Irgendjemand muss sich schließlich um Sie kümmern. Das Le-
ben hat mehr zu bieten als Schädel mit leeren Augenhöhlen.«
»Sobald ich die Augenhöhlen fülle, sind sie nicht mehr leer.« Eve trocknete sich die Hände ab. »Und ich bin eigentlich kein Workaho-lic.«
»Sie sind aber nah dran. Ich dagegen nehme mir hin und wieder gern die Zeit, an Rosen zu schnuppern.« Galen hielt ihr die Tür auf.
»Allerdings kenne ich New Orleans besser als Baton Rouge. Wir werden also ganz in Ruhe nach Hause spazieren, und unterwegs
erzähle ich Ihnen die Geschichte vom Big Easy und vielleicht ein paar Geschichten von meinen Aufenthalten dort. Dann können Sie entscheiden, was Sie unterhaltsamer finden.«
Galens Geschichten waren eindeutig unterhaltsam, und sie ver-
trieben ihnen die Zeit, bis sie am Haus eintrafen. Sie waren derb, lustig und voller facettenreicher Charaktere und amüsanter Anekdo-ten.
»Und er hieß wirklich Marco Polo?«, fragte Eve. »Das soll doch wohl ein Witz sein.«
»Überhaupt nicht. Er sagte, seine Mutter hätte ihn so genannt, weil sie der Meinung war, er würde mal ein großer Entdecker werden. Eigentlich passte er ganz gut zu einer Reihe von schrägen
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