Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition)
einer Seite öffnete und dann ein einzelnes bedrucktes Blatt herauszog. Er sah die Anrede, ein schlichtes Mr al-Kalli , und mehrere kurze Absätze darunter. Der Brief war mit krakeliger Schrift unterschrieben, und darunter standen die Worte Captain Derek Greer . Er machte leise: »Hm.«
»Worum geht’s?«, fragte al-Kalli und ergriff den Brief, den Jakob ihm reichte.
»Er stammt von dem Kerl, den Sie im Irak angeheuert haben, diesem amerikanischen Soldaten.«
Al-Kalli nahm eine Lesebrille mit Goldrand aus der Brusttasche und setzte sie auf. »Er weiß, dass ich hier bin?«, sagte er, als er zu lesen begann.
Jakob antwortete nicht, sondern wartete einfach ab. Trotzdem brauchte er nur in al-Kallis Gesicht zu blicken, um das meiste von dem zu erfahren, was er wissen musste.
In weniger als einer Minute hatte al-Kalli die Brille zurück in die Tasche gesteckt, den Brief zusammengefaltet und sagte: »Wir haben möglicherweise ein kleines Problem.«
Jakob wusste, dass Mohammed, wenn er klein sagte, groß meinte.
»Was soll ich tun?«
Al-Kalli sah ihn nachdenklich an. »Zuerst müssen wir mit Rashid reden.«
Wenige Minuten später hatten sie ihn dort gefunden, wo er immer war, im Bestiarium.
Al-Kallis Stimmung, ohnehin schon schlecht genug, wurde noch finsterer, als die Türen hinter ihm zurauschten.
Die Luft roch ungesund, die Schreie der Tiere klangen angespannt und traurig. Rashid selbst trug einen schmutzigen Laborkittel und spritzte mit einem Schlauch das gefleckte Fell der Basilisken ab. Als er seinen Arbeitgeber sah, stellte er rasch das Wasser ab und kam nach vorne, während er sich die Hände an einem Zipfel des Kittels abtrocknete.
»Mr al-Kalli«, sagte er, doch ehe er noch mehr sagen konnte, hatte al-Kalli ihn hart mit dem Handrücken auf den Mund geschlagen. Sein Saphirring schlug krachend gegen die Zähne.
Rashid fiel gegen die Gitterstäbe eines Käfigs, und das Geschöpf darin sprang unvermittelt hoch. Speichel spritzte in alle Richtungen.
Al-Kalli packte den spindeldürren Rashid am Kittelkragen und zog ihn vom Gitter weg. Vor Entsetzen sackte Rashid einfach zu Boden.
»Mit wem hast du gesprochen?«, zischte al-Kalli, und Rashid riss die Augen auf.
»Mit niemandem!«, stotterte er. Seine Lippen waren vom Blut wie mit einem Lippenstift verschmiert.
Al-Kalli holte aus und schlug ihn erneut so hart, dass Rashids Kopf herumschleuderte.
»Jemand weiß von den Tieren.«
»Ich habe niemals … jemandem davon erzählt.«
»Jemand hat die Tiere gesehen .«
Jetzt wusste Jakob, wie groß ihr Problem war.
»Wen hast du hier hereingelassen?«
»Niemanden … nur Bashir. Zum Saubermachen.«
Bashir war ein Teenager, nur eine Stufe über einem Idioten, den Rashid aus den ausgebombten Ruinen von Mosul mitgebracht hatte. Er sprach so gut wie nie, lebte in einer Hütte hinter dem Bestiarium und war praktisch ein Sklave.
»Wen noch außer Bashir?«
Rashid schüttelte nur den Kopf, vor Entsetzen und um die Frage zu verneinen. »Niemand ist jemals hier … es sei denn, um zu …« Er wusste nicht, wie er den Satz vervollständigen sollte, und er wollte es auch nicht. Die einzigen anderen Menschen, die hierherkamen, waren die Gefangenen, die Männer, die al-Kalli den Bestien zum Fraß vorwerfen ließ. Würde er jetzt einer von ihnen werden? Worte des Korans begannen ihm, wie ein Film in Zeitraffer, durch den Kopf zu gehen.
Al-Kalli stieß ihn von sich weg wie ein Stück Dreck, und Rashid landete auf dem schmutzigen Boden des Bestiariums. Er war klug genug, nicht aufzustehen. Besser, er blieb liegen, mit dem Gesicht nach unten, unterwürfig und besiegt. Das galt für Tiere, und es galt für Menschen.
Al-Kallis Blick, voller Verachtung und Abscheu, wandte sich von ihm ab. Der Blutgeruch in der Luft, wie schwach er auch sein mochte, erregte die Tiere. Er hörte es grunzen und knurren, und über ihren Köpfen ertönte ein wütendes Flügelschlagen. Während al-Kalli zusah, ließ sein hochgeschätzter Phönix sich von seiner erhöhten Sitzstange fallen, stürzte einer rotgoldenen Flamme gleich herab und kreischte dabei wie eine ganze Schar Adler. Wie von Sinnen flog er von einem Ende der riesigen Anlage zum anderen, die Spitzen der glitzernden Schwingen streiften die stählernen Wände, und die Klauen streckten und beugten sich, als seien sie ganz versessen darauf, eine lebendige Beute zu ergreifen.
Die anderen Tiere beobachteten seinen Flug und neideten dem Vogel vielleicht seine relative Freiheit.
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