Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition)
Ausstellung das erste Mal vollständig gesehen hatte, war sie einen Schritt zurückgewichen, ganz überwältigt von dieser Schönheit.
Doch jetzt ging sie geradewegs auf den nächsten Schaukasten zu. Er enthielt ein Sakramentar, bebildert für die Kathedrale in Canterbury. Das Buch war auf der Titelseite aufgeschlagen, mit einer Darstellung des Heiligen Geistes, der an Pfingsten auf die Apostel niederfährt. Beth betrachtete das Bild mit ganz neuen Augen. Jetzt sah sie darin nicht länger das Werk eines anonymen, wenn auch brillanten reisenden Künstlers, sondern eine Arbeitsprobe des Mannes, der sich Ambrosius von Bury St. Edmunds nannte. Konnte sie darin dieselben Techniken erkennen, dieselbe Begabung, die sie so lange in Edens wilde Tiere studiert hatte? Die Bewegungen der Apostel hatten in der Tat etwas Fließendes. Die Art, wie sie die Hände dem Himmel entgegenstreckten, legte nahe, dass es sich um die Arbeit eines Meisters handelte, doch es reichte nicht an die Meisterschaft seines letzten großen Werks für den Sultan Kilij al-Kalli heran.
Beth ging weiter, zum ersten Schaukasten im nächsten Raum. Hier fand sie ein Herbarium, eine Abhandlung über Pflanzen und ihre medizinischen Anwendungsgebiete, geschaffen für die englische Abtei St. Augustine in Canterbury. Ein blühender Zweig, dessen purpurne Blätter jetzt zu einem Rostrot verblasst waren, bedeckte die gesamte Seite und wurde vom Text umflossen, der, wie damals üblich, auf den Überlieferungen der alten Griechen anstatt auf tatsächlichen Beobachtungen beruhte. Die phantasievolle Gestaltung war bemerkenswert und ließ Beth unwillkürlich an die reißerischen Layouts der heutigen Hochglanzmodemagazine denken, der Text zeigte jedoch genau dieselbe unverwechselbare Schrägstellung wie die Handschrift in al-Kallis Bestiarium. Ja, dachte sie, es passte alles zusammen!
Doch sie würde sich nicht zufriedengeben, ehe sie einen Schreiberspruch gefunden hatte, den letzten Gruß des Schreibers, und sie wusste auch schon, wo sie einen finden würde. Ein gutes Beispiel war in einem Schaukasten im letzten Raum ausgestellt, eine Kopie der Apokalypse aus East Anglia, an dessen Ende ein Fluch stand.
Als sie den Raum betrat, reagierten die Bewegungsmelder und schalteten automatisch die Beleuchtung ein, doch es war immer noch der düsterste und abgeschiedenste Teil der Ausstellung. Die Schaukästen standen hier weiter auseinander, und die Schatten waren dunkler und größer. Obwohl Beth sich im Laufe der Jahre daran gewöhnt hatte, allein in leeren Museumshallen zu arbeiten, manchmal sogar bis spät in die Nacht, war sie bisweilen durchaus empfänglich für die unheimlichen Aspekte ihres Berufs. Sie rief sich in Erinnerung, dass es erst Nachmittag war und Elvis oben in ihrem Büro vor irgendeinem idiotischen Computerspiel hockte. Und dass sie ganz schnell hier fertig sein würde. Sie würde sich die Schreibersprüche genau ansehen und miteinander vergleichen und jeden Zweifel oder was auch immer endgültig beerdigen. Und dann wäre ihre Suche beendet, die Entdeckung abgeschlossen.
Trotzdem ging sie rasch zum letzten Schaukasten im Raum, in dem die Apokalypse – in der christlichen Tradition besser bekannt als Offenbarung des Johannes – ausgestellt war. Die Illustration zeigte einen siebenköpfigen Drachen, der sich in einem Meer aus Feuer wand. Durch ihre Arbeit an der Ausstellung wusste sie, dass die letzten Worte des biblischen Textes eine Warnung an all jene darstellten, die es wagten, irgendetwas an der Apokalypse zu verändern oder daraus zu entfernen. Eine solche Tat, hieß es, bedeute, sich selbst für alle Ewigkeit aus dem Buch des Lebens zu tilgen. Darunter, abgetrennt durch die Miniatur eines Kindes, das zum Himmel auffährt, kam der Schreiberspruch in Form eines Fluches, der die letzten Zeilen der Apokalypse aufgriff. In elegantem Latein hieß es, dass jeder, der es wagte, dieses Buch vor der Zeit zu beschädigen oder zu entweihen, ebenfalls aus dem Buch des Lebens getilgt würde.
Obwohl es kaum noch notwendig war, nahm Beth die letzte Passage von Ambrosius’ Brief aus dem Ordner unter ihrem Arm, legte den Rest der Papiere auf den Boden und hielt die Seite in das schwache Licht, das von der Beleuchtung des Glaskastens ausging. Die Flüche waren sich in ihrer Natur, ganz zu schweigen von dem Rhythmus der Prosa, auffallend ähnlich. Die Verzierungen der Buchstaben waren praktisch identisch, und die Handschrift selbst, eng und nach links geneigt,
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