Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition)
al-Kalli niederfahren, auf all seine Nachkömmlinge und auf all die gottlosen Bestien, die der Herr geschaffen (oder: bestimmt) hat, um in der Flut zu ertrinken. Jetzt und für immer, die Welt wird niemals enden. Amen. Mit diesen Worten endete der Brief. Der Ausdruck zeigte lediglich eine Reihe von Sternchen, gefolgt von Dokument komplett .
Wie erstarrt saß Beth auf ihrem Stuhl und fragte sich, ob sie all das tatsächlich gerade gelesen haben konnte. Es war nicht nur die Enthüllung des letzten Plans des Schreibers, der allein schon raffiniert genug war, obwohl sie nie erfahren würde, wie die Sache ausgegangen war. Nein, was sie fast noch mehr schockierte, waren zwei Dinge: die Tatsache, dass er seinen Namen genannt hatte, so dass sie jetzt wusste, wer dieser unvergleichliche Schreiber und Illustrator gewesen war, und der Fluch, den er als eine Art Schreiberspruch am Ende angefügt hatte.
Er ähnelte auffallend den Flüchen jenes geheimnisvollen Schreibers, dem Beth die Handschriften zuschrieb, die seit kurzem in der Ausstellungshalle des Getty-Museums gezeigt wurden.
Des Schreibers, den sie seit so vielen Jahren zu identifizieren versuchte.
Wie hatte sie so blind sein können? Wieso hatte sie nicht gemerkt, dass sie es mit einem Werk desselben Meisters zu tun hatte? Sie ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen, all die Dinge, die sie daran gehindert hatten, auch nur auf die Idee zu kommen, es könnte sich um denselben Mann handeln. Zuerst war da die Tatsache, dass Edens wilde Tiere aus dem Nahen Osten stammte. Bis zur Entdeckung des geheimen Briefes war es ihr nie in den Sinn gekommen, dass der Schreiber jemand anders als ein Untertan des Sultans sein könnte, oder zumindest ein lokaler Künstler mit gutem Leumund. Und dann waren da die ganzen Zufälle: Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass ein irakischer Plutokrat im Getty auftauchte und ausgerechnet ihr das Meisterwerk, den Schlussstein in der Karriere jenes wandernden Illustrators, anvertrauen würde, dessen Identität sie schon so lange zu ergründen versuchte? Nach all den endlosen Stunden, die sie in staubigen Archiven und stillen Bibliotheken von London bis New York, von Oxford bis Boston mit Nachforschungen verbracht hatte, fiel ihr ausgerechnet hier, in Los Angeles, an einem heißen sonnigen Tag, die Antwort wie aus heiterem Himmel in den Schoß.
Es war beinahe zu schön, um wahr zu sein.
Um es tatsächlich zu glauben, musste sie sich mit eigenen Augen überzeugen. Sie musste den Originalbrief mit den Texten der Bilderhandschriften vergleichen, die sie für die Ausstellung zusammengestellt hatte. Sie raffte die Ausdrucke zusammen, legte vorsichtig den Originalbrief dazu, und eilte aus ihrem Büro.
»Wo willst du hin?«, fragte Elvis, als sie an ihm vorbeischoss.
»Zur Handschriftenausstellung.«
»Hast du sie dir noch nicht angesehen?«, spottete er. »Du hast sie zusammengestellt, erinnerst du dich?«
Auf dem Platz draußen raschelten die Blätter der London-Platanen im trockenen Wind, der über die Hügelkuppe des Getty fegte, doch weit und breit war kein Mensch zu sehen, nicht einmal ein Wachmann auf seiner Runde. Das Klappern von Beth’ Absätzen hallte auf dem steinernen Vorhof wider, als sie auf den Nordpavillon zumarschierte, wo ein rot-goldenes Banner über dem Eingang verkündete: DAS GENIE DES KLOSTERS: BILDERHANDSCHRIFTEN DES 11. JAHRHUNDERTS. Am Codeschloss gab sie zuerst ihren eigenen Sicherheitscode ein und dann die Ziffernfolge, mit der die Tür geöffnet wurde. Sie hörte ein leises Summen und trat rasch in die Halle. Die schwere Glastür schloss sich langsam und fiel mit einem Klicken hinter ihr ins Schloss. Die Bewegungsmelder reagierten und schalteten die Deckenleuchten ein.
Aber sie spendeten nicht gerade besonders viel Licht. Die Handschriften waren so kostbar und verblassten so leicht, dass das Umgebungslicht auf ein Minimum reduziert worden war. Jede Handschrift wurde sorgfältig in einem eigenen Schaukasten präsentiert. Insgesamt wurden vielleicht zwei Dutzend Bände in den drei Räumen der Ausstellungshalle gezeigt, und jeder einzelne wurde indirekt von kleinen Wolfram-Halogenlampen innerhalb der Glaskästen beleuchtet. Der Effekt war, dass die Handschriften wie Signalfeuer aufschimmerten. Ihr poliertes Gold leuchtete wie Herbstlaub, das Lapislazuli strahlte wie das Mittelmeer, und die roten, blauen und violetten Edelsteine auf den Titeln und Einbänden glitzerten wie in einem Kaleidoskop. Als Beth die
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