Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition)

Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition)

Titel: Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Masello
Vom Netzwerk:
waren ausgeblichen, die Pergamentseiten zerknittert und rissig, trotzdem hatte Beth noch nie so eine lebendige, prächtige und originelle Arbeit gesehen. Als sie behutsam eine Seite nach der anderen umblätterte, knisterte das Pergament in ihren Händen, und ein oder zweimal spürte sie ein winziges Sandkorn … eine treffende Erinnerung daran, dass das Buch aus Mesopotamien stammte.
    Der Text war mit Goldtinte geschrieben, auf einem ehemals vermutlich violetten Hintergrund, von dem jetzt nur noch ein Hauch von Lavendel übrig war. Die Schrift war so verschlungen und verdichtet, dass es Beth ohne genauere Prüfung unmöglich war, mehr als hier und da ein Wort zu entziffern. Allerdings sah sie sich in ihrer Vermutung bestätigt, dass das Buch aus dem 11., möglicherweise dem 12. Jahrhundert stammte. Der Schreibstil lag irgendwo zwischen den Grundlagen der karolingischen Schrift, die durch Kaiser Karl den Großen Hunderte von Jahren zuvor verbreitet worden war, und der gotischen, die sich anschließend allmählich in Westeuropa durchsetzte. Selbst mit Hilfe der modernsten Computerprogramme, die das Getty einsetzte, würde das Entziffern der dicht geschriebenen und winzigen Schrift extrem schwierig und zeitaufwendig werden, zumal die Buchstaben oft die kunstvollen Illustrationen und Zeichnungen umrankten oder von ihnen überlagert wurden. Beth wusste, dass al-Kalli nicht besonders glücklich darüber sein würde.
    »Haben Sie so etwas schon einmal gesehen?«, fragte al-Kalli leise und beugte sich auf seinem Sessel vor. Beth nahm einen Hauch seines teuren Rasierwassers wahr.
    »Ja«, sagte sie, um sich absolut professionell zu geben, »es erinnert mich an das Krönungsevangeliar und das Xantener Evangeliar in Brüssel.«
    Er sah ernüchtert aus. Mrs Cabot wirkte verärgert.
    »Aber dieses hier ist, falls das überhaupt möglich ist, noch exquisiter.«
    Sowohl al-Kalli als auch Mrs Cabot schienen beschwichtigt.
    »Was mir besonders auffällt«, dachte Beth laut, »sind die Illustrationen.« In der Tat war sie in diesem Punkt noch zu keiner Einschätzung gekommen. Sie waren anders als alles, was sie je zuvor gesehen hatte, besonders bei Arbeiten aus dieser Zeit. Während viele solcher Handschriften sorgfältig konstruierte Illustrationen von geradezu mathematischer Präzision aufwiesen, wirkten diese Bilder kühner, expressionistischer. Sie waren mit beherzten Pinselstrichen und prächtigen Farben ausgeführt und verliehen den Tieren, die sie darstellten, ein erstaunliches Maß an Bewegung, Lebendigkeit und Echtheit.
    Was Beth besonders deswegen beeindruckte, weil es sich um ein Bestiarium handelte, also um ein Verzeichnis größtenteils mythischer Geschöpfe, die kein Mensch je zu Gesicht bekommen hatte.
    Beth blätterte eine weitere schwere Seite des Buches um, und wurde vom unheilvollen, finsteren Blick eines Mantikors begrüßt, eines Fabelwesens mit dem Haupt eines Mannes, dem Körper eines Löwen und dem schuppigen Schwanz einer Schlange. In den meisten solcher Illustrationen wurde das Wesen in einer reglosen Pose dargestellt, oftmals, während es von ebenso erstarrten Jägern aufgespießt wurde. Nicht jedoch in diesem Buch. Hier wurde der Mantikor in voller Bewegung dargestellt, wie er gerade aus einem Palmenhain hervorsprang, den Kopf dem Betrachter zugewandt. Unter seinen Klauen lagen die rotdurchtränkten Überreste seines Opfers, möglicherweise eines Kamels. Es war erstaunlich, sogar auf gewisse Art schockierend, eine so fließende, machtvolle Darstellung in einer so alten Handschrift zu finden. Die meisten Bilder zu jener Zeit zeichneten und kolorierten Mönche auf der Grundlage von bereits existierenden Bildern. Und selbst wenn sie ein echtes Lebewesen darstellten, eines, das der Illustrator rein theoretisch tatsächlich gesehen haben könnte, ein Krokodil, einen Wal, selbst einen Elefanten, waren die Werke doch stets formal und gestellt.
    Doch in diesem Buch waren der Mantikor, die Chimäre – eine feuerspeiende Ziege mit dem Schwanz einer Schlange – oder das Einhorn – ein Pferd mit dem Horn eines Rhinozeros – allesamt auf eine Weise abgebildet, die wesentlich anspruchsvoller und ausdrucksstärker war als irgendeine andere Darstellung aus dieser Zeit. Es schien, als ob die Geschöpfe in al-Kallis Edens wilde Tiere aus dem Leben gezeichnet worden wären.
    Und das sagte sie auch.
    Mrs Cabot strahlte erfreut, weil Beth ihrem Gast solch ein Kompliment machte, doch al-Kalli lächelte nicht. Er

Weitere Kostenlose Bücher