Knochenhaus (German Edition)
das alles? Doch Nelson schiebt alle Gedanken an seine Gefühle für Ruth entschlossen beiseite. Schließlich muss er schon zusehen, wie Michelle Rebeccas alte Babysachen sortiert, um Ruth einige davon zu schenken. Noch komplizierter braucht er es gerade wirklich nicht, vielen Dank auch.
«Sir?»
Tanya streckt den Kopf in sein Büro, und Nelson setzt alles daran, den Rest von ihr am Eintreten zu hindern.
«Was ist?»
«Ich habe die zahnärztlichen Unterlagen von Annabelle Spens.»
Das ändert die Lage natürlich. Die Müdigkeit ist wie weggeblasen, und Nelson setzt eine etwas gnädigere Miene auf.
«Gute Arbeit, Tanya. Zeigen Sie mal her.»
Bei Lob wird Tanya immer gleich redselig. «Eigentlich war es ja vor allem Ihre Bemerkung über die aufwendige Zahnbehandlung. Da dachte ich mir, vielleicht haben sie das ja woanders machen lassen, und habe mich an das Zahnmedizinische Institut in London gewandt. Das besteht bereits seit 1911. Ursprünglich war es im London Hospital untergebracht, aber inzwischen gehört es zum St.-Bartholomew-Krankenhaus. Jedenfalls hatten sie dort tatsächlich ihre Unterlagen. Vor ein paar Minuten haben sie sie gefaxt.»
Sie hält inne, um sich noch einmal loben zu lassen, doch Nelson streckt nur die Hand nach den Unterlagen aus. Stirnrunzelnd überfliegt er die Seiten, dann schaut er auf.
«Sie ist es nicht.»
«Wie bitte?»
«Haben Sie sich die Unterlagen denn nicht angesehen?»
«Nein … Ich bin gleich damit zu Ihnen gekommen.»
«Aber Sie wissen ja wohl noch, dass unser Schädel eine Plombe hat. Ziemlich ungewöhnlich bei einem kleinen Kind. Und laut den Unterlagen hier hatte Annabelle Spens keine einzige Plombe.»
Ruth ist unterwegs zu einer Verabredung mit Cathbad. Er hat tags zuvor angerufen und ihr vorgeschlagen, sich an der römischen Ausgrabungsstätte zu treffen und anschließend im Phoenix zu Mittag zu essen. Und Ruth ist überzeugt, dass es gegen die Düsternis der letzten Tage kaum ein besseres Gegenmittel gibt als Cathbad. Er redet zwar ständig davon, sich auch der «dunklen Seite» zu öffnen, strahlt aber trotzdem immer etwas seltsam Beruhigendes aus. Außerdem hat Max ihr von seinem jüngsten Fund berichtet, hinter dem er einen sogenannten «Janus-Stein» vermutet, eine Darstellung des Gottes mit den zwei Gesichtern. Sie freut sich schon darauf, Cathbad mit Janus bekanntzumachen.
Ruth fährt schnell und hat eine ihrer fröhlicheren Springsteen-Kassetten eingelegt. Heute will sie nichts von Badlands wissen, nichts hören von endlosen Highways, die ins Nirgendwo führen, oder von heruntergekommenen Städten, in denen es keine Arbeit gibt, «on account of the economy» . Heute ist ein Tag für Dancing in the Dark mit seinen kompromisslosen Gitarrenriffs und den gellenden Saxophonsolos. Ruth ist müde – sie ist erst um eins ins Bett gekommen und konnte dann lange nicht einschlafen –, doch sie ist froh darüber, dass der Gedanke an ein echt römisches Fundstück sie trotz allem noch aufheitern und vergessen machen kann, dass jemand sie allem Anschein nach umbringen will.
Wobei das mit dem Vergessen so eine Sache ist: Als sie aus dem Wagen steigt, schaut sie sich erst einmal nach allen Seiten um und zuckt zusammen, als neben ihr eine Feldlerche senkrecht aus dem Unterholz schießt und sich mitsamt ihrem Lied gen Himmel schwingt. Und sie hält das Handy griffbereit in einer Hand. Nelsons Nummer ist im Kurzwahlverzeichnis eingespeichert – wenn auch nur irgendetwas Verdächtiges im Unterholz lauert, wird sie ihn auf der Stelle anrufen. Doch am helllichten Tag fällt es selbst ihr schwer, noch an ermordete Kinder, Opfergaben und den Kult um eine Hexengöttin zu glauben.
Als sie den Hügel hinaufsteigt, fängt es an zu regnen, ein leichtes, warmes Nieseln, das eigentlich eher erfrischend als lästig ist. Die Ausgrabungsstätte liegt verlassen da, alle Gräben sind sorgfältig mit Planen abgedeckt. Cathbad ist nirgends zu sehen. Max hat ihr gesagt, sie könne den Janus-Stein im hintersten Graben finden. Während Ruth über den unebenen Boden dorthin stapft, wird der Regen stärker, und sie ärgert sich, keinen Mantel mitgenommen zu haben. Als sie die nasse Plane anhebt, sieht sie den Stein sofort: kugelförmig, vermutlich aus Granit und etwa doppelt so groß wie ein menschlicher Kopf. Er wirkt unförmig und leicht bedrohlich, wie er da so auf dem glattgeharkten Untergrund ruht. Ob er einmal zu einer Statue gehört oder eine andere Funktion erfüllt hat? Schon
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