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Knochenhaus (German Edition)

Knochenhaus (German Edition)

Titel: Knochenhaus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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von weitem kann Ruth erkennen, dass der Stein auf jeder Seite ein Gesicht hat. Keines von beiden blickt sonderlich freundlich drein.
    «Janus», sagt eine Stimme über ihr. «Janus. Der Hüter der Türschwellen.»

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    29
    Judy wagt kaum zu atmen. Sie weiß, es ist entscheidend, dass Schwester Immaculata weitererzählt, und so betet sie inständig, dass niemand unversehens den Wintergarten betritt, dass keine wohlmeinende Seele auf die Idee kommt, ihnen Tee oder Kaffee anzubieten, und die alte Nonne sich nicht zu schwach fühlt, um weiterzureden.
    «Wer hat sie umgebracht?», fragt sie sanft nach.
    Doch als Schwester Immaculata sich ihr wieder zuwendet, merkt Judy, dass die alte Frau verschwunden ist. Ihre Augen, voller Qual und Tränen, sind die Augen der jungen Orla McKinley.
    «Ich war erst dreiundzwanzig», sagt sie. «Er nannte mich seine Jokaste. Als das Kind geboren wurde, war ich zwanzig. Viel zu jung. Ich wusste nichts. Ich war doch nur ein dummes Ding aus County Clare. Er war so viel klüger als ich. Er wusste alles über Geschichte, über das alte Rom. Über die Götter. Und über die schrecklichen Dinge, die man tun muss, um sie milde zu stimmen.»
    «Das Kind», wiederholt Judy und spürt, wie eine kalte Hand nach ihrem Herzen greift.
    «Mein Kind», sagt Schwester Immaculata, und auf ihrem Gesicht liegt der Widerschein einer schönen Erinnerung. «Meine Bernadette.»
    «Sie hatten ein Kind?»
    «Ein kleines Mädchen. Ich durfte sie nur drei Jahre bei mir haben. Dann hat er sie getötet. Er sagte, die Götter wollten es so.»
    Die Kälte breitet sich durch Judys ganzen Körper aus. «Christopher Spens hat Ihr Kind getötet?», haucht sie.
    Doch Schwester Immaculata scheint sie gar nicht zu hören. «Er hat gesagt, die Götter brauchten ein Opfer. Wir müssten die Mauern des Hauses wieder sicher machen. Er hat gesagt, Annabelle sei gestorben, weil die Mauern nicht mehr sicher sind. Wir müssten den Göttern etwas Wertvolles schenken, hat er gesagt. Deshalb hat er sie getötet.»
    «Er hat Ihr Kind geopfert ?»
    «Es war auch sein Kind», sagt Schwester Immaculata traurig. «Aber das schien ihm nichts auszumachen.»
    «Auch sein Kind», wiederholt Judy.
    «Ich wusste ja, dass es falsch war.» Schwester Immaculata greift nach Judys Hand. «Ich wusste, es war falsch. Es war Sünde. Und die Sünde holt einen immer wieder ein. Das haben mir schon die Schwestern daheim in Irland gesagt. Ja, ich habe gesündigt. Mit ihm. Und ich bin schwanger geworden und habe das Kind bekommen. In Schande geboren, so heißt es doch. Ein Bastard. Und sie hat ja auch dafür zahlen müssen. Meine Bernadette.»
    «Wie hat er sie denn getötet?» Judy weiß, dass sie der Nonne die ganze Geschichte entlocken muss. Sie wird noch einmal wiederkommen und eine offizielle Aussage aufnehmen müssen, doch irgendwie hat sie im Gefühl, dass eine solche Chance sich nicht noch einmal bieten wird. Schwester Immaculata hat ihr Geheimnis mehr als fünfzig Jahre lang bewahrt, und nun hat sie sich entschlossen zu reden. Sie darf auf keinen Fall damit aufhören.
    «Ich war in der Waschküche beschäftigt», fährt die Nonne mit müder Stimme fort. «Die Hausmädchen hatten den Vormittag frei. Und als ich nach meiner Bernadette sehen wollte, war sie tot. Erstochen in ihrem Bettchen. Blut an den Wänden, auf der Bettdecke, am Boden – überall. Er hat von mir verlangt, dass ich die Hände in ihr Blut tauche. Er sagte, das gehöre zum Ritual.»
    «Was haben Sie getan?», fragt Judy zutiefst entsetzt.
    «Ich habe ihn gedeckt», erwidert Schwester Immaculata scharf. «Das habe ich doch schon gesagt.»
    «Aber wie?»
    «Ich bin fortgegangen. Und er hat sie im Garten begraben. Er meinte, später wolle er sie wieder ausgraben und unter die Türschwelle legen. Als Opfer an Janus. Der Kopf, hat er gesagt, käme in den Brunnen. Ich bin fortgegangen. Noch am selben Tag bin ich fortgegangen, zurück nach Irland. Alle glaubten, ich hätte Bernadette mitgenommen. Diese verrückte, unzuverlässige kleine Irin, haben sie sicher gedacht. Ich habe es getan, um ihn zu schützen.»
    «Aber warum denn nur?», stößt Judy fast wimmernd hervor.
    Die Nonne mustert sie, und auf ihrem Gesicht liegt ein eigenartiger, fast mitleidiger Ausdruck. «Wissen Sie, ich habe ihn eben immer noch geliebt. Das war das Schlimmste daran. Er hat mein Kind getötet, und ich habe ihn trotzdem noch geliebt. Inzwischen glaube ich, das war meine allergrößte

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