Knochenhaus (German Edition)
die Hände zittern. Nur die Augen sind weiterhin hellwach und mustern Judy voller Misstrauen, vielleicht sogar Angst.
«Detective Constable Judy Johnson», stellt Judy sich vor. «Erinnern Sie sich noch an mich?»
«Natürlich erinnere ich mich an Sie. Ich bin ja nicht schwachsinnig.» Judy atmet innerlich ein wenig auf, als sie den aggressiven Ton in der Stimme der alten Frau hört. Das wird ihr die Sache erleichtern.
«Schwester Immaculata, Sie heißen mit richtigem Namen Orla McKinley, stimmt das?»
Ein kurzes Schweigen. «Kommt ganz darauf an, was Sie mit ‹richtigem Namen› meinen.»
«Ihren Taufnamen.»
«Ja. Und?»
«1951 lebten Sie bei der Familie Spens in der Woolmarket Street.»
Diesmal dauert das Schweigen länger an. Schwester Immaculata windet den unvermeidlichen Rosenkranz fest um ihre Hand. Draußen im Steingarten zanken zwei Möwen um eine Brotkruste.
«Ich habe dort als Kindermädchen gearbeitet», sagt Schwester Immaculata schließlich.
«Als Kindermädchen für Annabelle Spens?»
«Genau.»
«Annabelle ist 1952 gestorben, richtig?»
Schwester Immaculata sieht sie nur schweigend an. Die Perlen des Rosenkranzes stehen still.
«Sind Sie auch nach ihrem Tod noch im Haus geblieben?»
«Ja. Es waren gute Menschen. Sie ließen mich bleiben.»
«Haben Sie sich auch um Roderick gekümmert?»
«Roderick war damals schon vierzehn. Beileibe kein Kind mehr.»
«Schwester Immaculata …» Judy beugt sich vor. Alles hängt davon ab, ob sie diese alte, sterbende Frau dazu bringen kann, sich ihr anzuvertrauen. Sie legt ihre ganze Überzeugungskraft in die nächsten Worte und schickt dazu noch ein Gebet gen Himmel. Bitte, lieber Gott, mach, dass sie mir die Wahrheit sagt. «Schwester Immaculata, wir haben unter der Türschwelle des Hauses die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden. Sie müssen mir sagen, ob das Annabelles Leiche sein kann. Bitte. Es ist wirklich sehr wichtig.»
Erst glaubt sie, gescheitert zu sein. Schwester Immaculata schweigt, und die Perlen des Rosenkranzes wandern wieder zwischen ihren Fingern hindurch. Doch dann entfährt ihr ein Laut irgendwo zwischen Schluchzen und Seufzen, und die Worte purzeln nur so aus ihr heraus.
«Es war falsch. Es war schlecht. Das war mir immer klar. Aber ich habe ihn eben geliebt, verstehen Sie? Seltsam, es klingt wie eine schlechte Ausrede, aber ich habe ihn geliebt. Damals war das alles für mich. Ich habe ihn gedeckt. Ich wusste, es ist Sünde. Tiefschwarze Sünde. Ich wollte dafür Buße tun, doch am Ende holt einen die Sünde immer ein.»
«Schwester …» Judy greift nach ihrer Hand. «Was war das für eine Sünde? Was haben Sie gedeckt?»
Schwester Immaculata sieht sie an, und ihre Augen schwimmen in Tränen. «Er hat sie umgebracht», sagt sie, «und ich habe ihn gedeckt.»
Nelson hat keinen guten Tag erwischt. Sein Computer scheint mal wieder ein Schweigegelübde abgelegt zu haben, Clough ist verschwunden, um sich ein spätes Frühstück oder frühes Mittagessen zu gönnen, und von Tanya fehlt jede Spur. Wenn wenigstens Judy hier wäre! Sie hat eine Eigenschaft, die bei jedem guten Polizeibeamten unverzichtbar ist: Sie ist immer genau da, wo sie gebraucht wird. Nur jetzt nicht – jetzt muss sie sich ja unbedingt in diesem verflixten Southport herumtreiben. Als Kind war Nelson einmal auf Urlaub in Southport. Lange, verregnete Spaziergänge am Strand, eine Pension, wo es nur eine Scheibe Toast zum Frühstück gab und etwa tausend Nippesfigürchen, die höhnisch von den Regalen heruntergrinsten und die man nicht anfassen durfte. Einmal und nie wieder.
Außerdem ist er müde. Er ist erst um Mitternacht von Ruth weggekommen. Sie schien so weit in Ordnung zu sein, ein bisschen angeschlagen natürlich, aber sonst ganz munter. Das gehört zu den Dingen, die ihm an Ruth richtig gut gefallen: dass sie so zäh ist. Er kennt eine Menge Leute, die in einer solchen Situation total hysterisch geworden wären; immerhin ist da jemand in ihren Garten eingedrungen, um sie zu entführen, sie anzugreifen oder noch Schlimmeres mit ihr anzustellen. Doch Ruth war stur wie immer. Sie ist ganz schön bissig geworden, als Tanya taktloserweise behauptet hat, sie wäre durcheinander. Tanya wird nie in ihrem ganzen Leben begreifen, wie jemand wie Ruth Galloway tickt. Er ist sich selbst nicht ganz sicher, ob er tatsächlich weiß, wie sie tickt, doch immerhin bewundert er sie. So, so, bewundern, meldet sich die vorlaute Stimme in seinem Kopf zu Wort. Ist
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