Knochenhaus (German Edition)
vermutlich asiatischen Frau.
«Hier spricht Doktor Sita Patel.»
«Wer?» Der Name sagt Nelson überhaupt nichts.
«Sie hatten mich angerufen wegen Sir Roderick Spens.»
«Ach ja.» Das war es, was Nelson Whitcliffe neulich unkonzentriert zugesagt hat: Er hat versprochen, Sir Rodericks Hausarzt anzurufen, sich nach seinem Gesundheitszustand zu erkundigen und sicherzustellen, dass es das (in Whitcliffes Worten) «fragile seelische Gleichgewicht» des alten Herrn auch nicht gefährde, in polizeiliche Ermittlungen verwickelt zu sein, und sei es nur ganz am Rande.
Nelson setzt der Ärztin sein Anliegen auseinander, so gut er kann. Als Antwort erhält er nur Schweigen am anderen Ende der Leitung.
«Das verstehe ich nicht», sagt Doktor Patel schließlich schnippisch. «Sir Roderick Spens leidet nicht an Demenz.»
«Ach nein?»
«Im Gegenteil, er ist sogar auffallend klar im Kopf. Wahrscheinlich sogar noch klarer als wir beide zusammen, Detective Chief Inspector.»
Als Nelson auflegt, denkt er bereits fieberhaft nach.
«Ein hochinteressanter Gott, dieser Janus.»
«Das habe ich auch gehört.» Ruth blickt von ihrem Fund auf.
«Allerdings nur eine untergeordnete Gottheit, so wie Nemesis, Morpheus und Hekate.»
«Die untergeordneten Götter haben anscheinend alle einiges auf dem Kerbholz», sagt Ruth leichthin.
«Das kann man wohl sagen.»
Judys Möglichkeiten für die Nachmittagsgestaltung erweisen sich als einigermaßen begrenzt: ein Spielsalon, eine Einkaufspassage, eine endlose Reihe von Hotels, die alle zum endlosen Nachmittagstee laden – oder aber das Zimmer in ihrer Pension, wo sie Löcher in die Tapete (rosa mit hellgrünem Gitterwerk) starren kann. Letztlich beschließt sie, ins Kino zu gehen. Diese Multiplex-Paläste sind absolut austauschbar, egal, wo man ist: derselbe abgetretene lila Teppichboden, derselbe Geruch nach Popcorn, dieselben Plakate, dieselbe Knabbertheke und sogar dieselben Fingertapser auf den Paranüssen mit Schokoglasur.
Judy war seit Urzeiten nicht mehr im Kino. Darren und sie haben einen so unterschiedlichen Filmgeschmack, dass sie meist einfach wartet, bis die Filme auf DVD erscheinen. Doch jetzt braucht sie dringend einen Film, um die Diashow im Kopf abzustellen und Schwester Immaculatas Worte nicht mehr hören zu müssen: Blut an den Wänden, auf der Bettdecke, am Boden – überall. Er hat von mir verlangt, dass ich die Hände in ihr Blut tauche.
Im Foyer ist kein Mensch, und Judy kann sich ewig nicht zwischen einem Thriller und einem Gute-Laune-Frauenfilm entscheiden, in dem es um Brautjungfern geht. Schließlich wählt sie dann doch den Thriller. Sie ist mit Darren zusammen, seit sie beide siebzehn sind, und in letzter Zeit redet er immer häufiger übers Heiraten. Judy ist selbst ganz überrascht, wie vehement sie dagegen ist. Allein der Gedanke, aufgedonnert im weißen Kleid zum Altar zu schreiten, ist ihr fremd und widerwärtig und vor allem ganz schrecklich peinlich. Judy steht nicht gern im Mittelpunkt – ein Grund, warum sie eine so gute Ermittlerin ist.
Im Kinosaal sind nur vier Zuschauer: ein älteres Paar, ein einzelner Mann, der so offensichtlich nach Psychopath aussieht, dass er fast ein verdeckter Ermittler sein könnte – und Judy. Sie setzt sich in die letzte Reihe, mampft M&Ms und hat ein furchtbar schlechtes Gewissen. Gehört es sich etwa für eine Frau im arbeitsfähigen Alter, nachmittags im Kino zu hocken? Doch hier drinnen ist ja kein Nachmittag. So, wie man hier an jedem beliebigen Ort sein könnte, kann draußen auch jede beliebige Tageszeit sein. Schon jetzt weiß Judy, dass das Tageslicht sie wie ein Vorschlaghammer treffen wird, wenn sie später wieder nach draußen kommt. In der Welt der Multiplex-Kinos ist es immer dunkel.
Der Thriller ist ganz unterhaltsam, obwohl sie völlig vergessen hat, dass Amerikaner dermaßen nuscheln. Am liebsten würde sie sich ständig vorbeugen wie eine alte Frau mit Hörrohr: «Was haben Sie gesagt, junger Mann?!» Die Musik dagegen ist so laut, dass sie sie gleich wieder zurück in den Sitz pustet. Judy war schon ewig in keinem Club mehr oder sonst irgendwo, wo laute Musik gespielt wird. Sie ist nur noch das sanfte Dudeln ihres iPods gewöhnt. Sie muss dringend mehr unter die Leute gehen.
Doch nach und nach findet sie in die Handlung hinein. Es geht um das FBI, ein Komplott zur Ermordung des Präsidenten und unerklärlicherweise auch um Außerirdische. Gerade ist sie kurz davor, ganz in den
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