Knochenhaus (German Edition)
trage eine schwere Verantwortung.
Es ist nicht nur die Herrin, die im Geiste zu mir spricht, sondern das ganze Heer von Heiligen, die einst an dieser Stätte wohnten. Die Märtyrer, die für ihren Glauben gestorben sind. Auch sie sprechen zu mir. Dies ist mein Leib. Dies ist mein Blut.
Tod muss durch weiteren Tod, Blut durch Blut gesühnt werden. Das ist mir inzwischen klargeworden. Sie wird das niemals begreifen, weil sie ein Weib ist, und Weiber sind SCHWACH. Das weiß doch jeder. Sie hängt zu sehr an dem Kind. Das ist ein Fehler.
Gestern Nacht habe ich erneut geopfert, und das Ergebnis war dasselbe. Ich muss noch warten. Dabei wird es immer größer. Es kann laufen, und bald wird es anfangen zu sprechen. Ich bin nicht grausam. Die Götter sind meine Zeugen, dass ich niemandem vorsätzlich Schmerz zufügen würde. Doch die Familie steht immer an erster Stelle. Was zu tun ist, muss nun einmal getan werden. Fortes fortuna iuvat.
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4
Ruth kommt erst am Nachmittag auf das Baugrundstück an der Woolmarket Street. Montags muss sie keine Vorlesungen halten, sie hat die Gelegenheit genutzt, bei ihren Eltern ein wenig auszuschlafen. Sie leidet immer noch unter morgendlicher – und im Übrigen auch abendlicher – Übelkeit. Ihre Mutter hat Porridge für sie gekocht, weil das gut gegen Morgenübelkeit sein soll, und Ruth hat zwar nur ein paar Löffel davon heruntergebracht, aber durchaus registriert, dass ihre Mutter ihr etwas Gutes tun wollte. Ansonsten wurde über den Bastard-Enkel kein weiteres Wort verloren.
Die Woolmarket Street gehört zu den ältesten Straßen von Norwich und ist Teil eines wahren Labyrinths aus schmalen, mittelalterlichen Gässchen, durchsetzt von scheußlich modernen Bürogebäuden. Nachdem sich Ruth, den aufgefalteten Stadtplan neben sich auf dem Beifahrersitz, mühsam durch das Gewirr von Einbahnstraßen geschlängelt hat, gelangt sie an einen Teil der alten Stadtmauer: klumpiges Mauerwerk, hauptsächlich Feuersteine, die eher so aussehen, als wären sie dort gewachsen und nicht aufgeschichtet worden. Gleich gegenüber erhebt sich, etwas zurückgesetzt von der Straße, hinter Eisentoren ein gewaltiges viktorianisches Anwesen. Von einem Torflügel verkündet ein Schild des Bauunternehmens Spens & Co, dass auf diesem Grundstück fünfundsiebzig Luxusapartments entstehen werden.
Vom Tor aus wirkt das Haus nach wie vor eindrucksvoll. Eine baumbestandene Auffahrt verläuft in elegantem Schwung bis zu der ehrfurchtgebietenden Backsteinfassade. Durch das Laub kann Ruth Bogenfenster erkennen, Erker, Türmchen und andere Elemente viktorianisch-neogotischer Grandezza. Doch als sie näher kommt, stellt sie fest, dass das alles nur noch Fassade ist. Hier führen längst Bagger und Schuttcontainer das Regiment. Die Außenmauern des Hauses stehen zwar noch, doch dahinter eilen Männer mit Bauhelmen geschäftig über Planken und hastig improvisierte Laufstege und schieben dort, wo früher Flure, Salons, Küchenräume und Speisekammern waren, ihre Schubkarren entlang.
Ruth hält direkt vor dem Haus. Die einstige Rasenfläche wird jetzt von einem Bauhäuschen und einem Miet-Klo geziert. Das Gras ist unter Bergen von Sand und Zement verschwunden, die Luft erfüllt vom Baulärm: Man hört Metall auf Metall schlagen, das pausenlose Rattern der Maschinen.
Ruth greift nach ihrer Ausrüstung und steigt aus. Aus dem Bauhäuschen kommt ein rotgesichtiger Mann auf sie zu.
«Kann ich Ihnen helfen?»
«Doktor Ruth Galloway.» Ruth streckt ihm die Hand hin. «Von der Universität. Ich soll mich hier mit den Archäologen treffen.»
Der Mann knurrt, als hätten sich soeben seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. «Wie sollen meine Jungs denn mit der Arbeit vorankommen, wenn’s hier ständig von Archäologen wimmelt?»
Ruth geht nicht darauf ein. «Soviel ich weiß, leitet Ted Cross die Ausgrabung?»
Der Mann nickt. «Ted der Ire. Ich schicke gleich jemanden, der ihn holen geht.» Dann reicht er ihr einen Helm – «Den müssen Sie auflassen» – und verschwindet wieder in seiner Bauhütte. Ruth kennt Ted den Iren flüchtig von früheren Ausgrabungen. Ein stämmiger Mann Ende vierzig, mit Glatze und zahllosen Tätowierungen, der zumindest äußerlich absolut nichts von einem Iren an sich hat.
Ted kommt grinsend auf sie zu und enthüllt dabei zwei Goldzähne. «Sie wollen sich wohl unser Skelett anschauen, was?»
«Ja. Phil hat mich angerufen.»
Ted spuckt aus – eine
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