Knochenhaus (German Edition)
diesem Erik, ihrem Doktorvater? Nelson hatte immer den Eindruck, dass Ruth Erik recht nahestand. Ob sie auch miteinander im Bett waren? Es ist seltsam, doch für Nelson steht Ruth irgendwie auf einer höheren Ebene als andere Leute. Die Nacht, in der sie miteinander geschlafen haben, scheint ihm meilenweit entfernt von so alltäglichen Beweggründen wie Lust und Begehren, obwohl natürlich beides eine Rolle gespielt hat. Ruth und er sind einander auf Augenhöhe begegnet, nachdem sie gerade ein schreckliches Erlebnis gemeinsam durchgestanden hatten. Es fühlte sich einfach … richtig an. Und es war, erinnert sich Nelson, ganz unglaublicher Sex.
Wenn er daran zurückdenkt, wie richtig es sich angefühlt hat, ist Nelson fast überzeugt, dass Ruth in dieser Nacht tatsächlich schwanger geworden sein muss. Es scheint wie vorherbestimmt. Großer Gott! Er gibt dem Rasenmäher einen energischen Schubs. Jetzt denkt er schon wie eine dieser bescheuerten Frauenzeitschriften. Dabei ist es sowieso äußerst unwahrscheinlich, dass sie schwanger ist. Sie wird wohl irgendwie verhütet haben (obwohl das nie zur Sprache kam – sie haben überhaupt nicht viel geredet in dieser Nacht). Wahrscheinlich hat sie doch einfach nur zugenommen.
«Dad!»
Rebecca beugt sich aus dem Fenster im oberen Stock. Mit ihrem langen blonden Haar und dem ernsten Gesicht wirkt sie seltsam anklagend, wie die viktorianische Darstellung einer betrogenen Ehefrau. Einen unsinnigen Moment lang stellt Nelson sich vor, dass seine Tochter über Ruth Bescheid weiß, dass sie Michelle davon erzählen wird …
«Dad! Doug ist am Telefon. Er will wissen, ob du nachher noch ins Pub kommst.»
Nelson unterbricht seine Arbeit und ringt nach Luft. Der Geruch nach frischgemähtem Gras ist geradezu betäubend.
«Danke, Süße. Sag ihm, ich komme nicht. Ich möchte den Abend lieber mit meiner Familie verbringen.»
Rebecca zuckt die Achseln. «Wie du willst. Aber ich glaube, Mum wollte ins Kino.»
Am Abend, während Nelson mit seinen Töchtern einen alten James-Bond-Film schaut – Michelle ist tatsächlich mit einer Freundin ins Kino gegangen –, sitzt Ruth mit ihren Eltern im Wohnzimmer vor demselben Film, ohne viel davon mitzubekommen. Sie kann James Bond nicht leiden, findet ihn sexistisch, rassistisch und überhaupt unerträglich langweilig, doch ihren Eltern scheint der Film zu gefallen (obwohl man sich kaum jemand weniger Wiedererwecktes als James Bond vorstellen kann), und sie will auf keinen Fall noch weiter mit ihnen streiten. Den ganzen Nachmittag haben sie bis zur Erschöpfung über das Baby diskutiert. Wie konnte sie nur? Wer sich denn um das Kind kümmern solle, wenn sie zur Arbeit müsse? Ob sie denn nicht wisse, dass zu einer Familie auch ein Vater gehöre? Was das arme Würmchen denn bloß ohne Vater anfangen solle, ohne Familie, ohne Gott? «Ihr seid doch seine Familie», hat Ruth erwidert. «Und ihr könnt ihm auch von Gott erzählen.» Wobei ich, setzt sie im Stillen hinzu, ihm meine eigene Version auch nicht vorenthalten werde: dass Gott nämlich bloß ein Märchen ist. So wie Schneewittchen , nur noch ein bisschen gemeiner.
Doch jetzt sind ihre Eltern glücklicherweise still und schauen seelenruhig zu, wie James Bond sich mit einer spärlich bekleideten Frau prügelt. Als Ruths Handy klingelt, werfen sie ihr vorwurfsvolle Blicke zu.
Ruth geht in die Diele, um den Anruf entgegenzunehmen. «Phil» steht auf dem Display. Ihr Chef. Der Lehrstuhlinhaber des Fachbereichs Archäologie an der Universität North Norfolk.
«Hallo, Phil.»
«Hi, Ruth. Ich hoffe, ich störe nicht?»
«Ich bin gerade bei meinen Eltern.»
«Oh … schön. Ich wollte dir nur sagen, dass wir bei einer der Feldgrabungen auf etwas gestoßen sind.»
Die Universität setzt sogenannte Feldarchäologen an Ausgrabungsstätten ein, die zur Weiternutzung, meistens zur Bebauung, erschlossen werden. Offiziell sind diese Feldarbeiter Phil unterstellt, und er betrachtet sie als den Fluch seines Daseins.
«Bei welcher denn?»
«Die an der Woolmarket Street.»
«Und was haben sie dort gefunden?» Ruth fragt, obwohl sie die Antwort eigentlich schon kennt.
«Menschliche Überreste.»
4. Juni
Festtag des Hercules Custos
Ich war heute den ganzen Tag mit meiner Übersetzung des Catull beschäftigt. Sie hat mich abgelenkt. Das war FALSCH. Gestern Nacht habe ich erneut die Stimmen gehört. Früher glaubte ich, ich würde wahnsinnig, doch heute weiß ich, dass ich ERWÄHLT bin. Ich
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