Knochenhaus (German Edition)
fünfzig und mehreren hundert, vielleicht sogar tausend Jahren haben. Ruth hat einen Querschnitt vor sich: Die Knochen ruhen in der Seitenwand des Grabens. Es sieht aus, als läge die Leiche in Embryostellung. Ruth wirft Ted einen Blick zu. «Der Schädel fehlt», sagt sie.
«Stimmt», erwidert er im Plauderton. «Das ist uns auch aufgefallen.»
Plötzlich spürt Ruth, dass ihr wieder schlecht wird. Sie macht hastig ein paar Schritte von Ted weg und erbricht sich in eine Ecke des Grabens. Trace sieht ihr entsetzt zu.
Ted hingegen bleibt völlig ungerührt. «Alles klar?», fragt er. «Wollen Sie einen Schluck Wasser?»
«Ja, bitte.» Ruth hat pochende Kopfschmerzen und spürt, wie sie am ganzen Körper zittert. Muss das denn ausgerechnet hier passieren? Morgen weiß es wahrscheinlich schon der ganze Fachbereich. Sie geht in die Hocke, versucht, wieder ruhiger zu atmen.
«Hier.» Ted kommt mit einer schon recht mitgenommenen Wasserflasche zurück. Ruth nimmt einen zaghaften Schluck daraus, und ihr Innenleben beruhigt sich wieder ein wenig. Bloß nicht aufregen. Tief durchatmen.
«Tut mir leid», sagt sie. «Ich muss wohl etwas Falsches gegessen haben.»
«Autobahnraststätten», meint Ted verständnisvoll.
«Genau.» Ruth richtet sich wieder auf. «Ich denke, wir sollten die Polizei verständigen.»
«Soll ich den Notruf wählen?», fragt Trace und klingt dabei zum ersten Mal etwas lebhafter.
«Nein, ich habe eine andere Nummer.» Ruth zückt ihr Handy und drückt die Kurzwahltaste.
«Ruth!», ruft die überraschte Stimme am anderen Ende. «Warum rufst du an?»
«Wir haben Knochen gefunden, Nelson», sagt Ruth. «Ich glaube, die solltest du dir mal ansehen.»
Als Nelson eintrifft, sind die Bauarbeiter bereits nach Hause gegangen. Zurückgeblieben ist nur der wutschnaubende Polier, der ständig wiederholt: «Edward Spens will das Grundstück Ende der Woche zum Bau freigeben.»
«Ich bin überzeugt, dass auch er polizeilichen Ermittlungen nicht im Weg stehen wird», gibt Ruth bissig zurück. Seiner Miene nach zu urteilen, scheint der Polier nicht dieser Ansicht zu sein.
Ruth hört Nelsons Mercedes mit quietschenden Reifen die kurvige Auffahrt heraufkommen. Sie ist sich ihrer Gefühle ihm gegenüber nicht ganz sicher. Natürlich mag sie ihn, vielleicht sogar mehr als das, aber sie weiß auch, dass ihr Verhältnis zu ihm immer schwieriger werden wird, je weiter die Schwangerschaft fortschreitet. Wenigstens wird es noch ein paar Wochen dauern, bis er Verdacht schöpft. Glücklicherweise hat sie ja schon immer weite Kleidung getragen.
Dann erscheint Nelson selbst und bleibt einen Augenblick im Türrahmen stehen. Direkt hinter ihm ist Detective Sergeant Clough, einer seiner Mitarbeiter, den Ruth flüchtig kennt. Nelson gibt Clough ein paar rasche Anweisungen, dann kommt er den schmalen Laufsteg entlang und springt elastisch in den Graben hinunter. Genau so kennt ihn Ruth: immer in Bewegung, in Gedanken schon beim nächsten Schritt. Doch sie weiß, dass er beim Verhör auch sehr geduldig sein kann. Fast so geduldig wie ein Archäologe.
«Wer ist hier zuständig?», will er als Erstes wissen.
«Ich», würde Ruth am liebsten sagen, doch der Polier ist schneller.
«Derek Andrews», stellt er sich vor. «Polier.»
Nelson brummt nur und schaut an ihm vorbei zu Ruth.
«Wo sind die Knochen?»
«Hier», sagt Ruth. Während sie auf Nelson gewartet haben, hat sie gemeinsam mit Ted und Trace die Knochen weiter freigelegt und sie fotografiert, wobei ihr die Messlatte als Maßstab gedient hat. Das Skelett ragt jetzt wie ein makaberes Mosaik aus dem Boden. Nelson geht davor in die Hocke und streicht vorsichtig mit dem Finger über einen der Knochen.
«Seid ihr sicher, dass es menschliche Knochen sind?», fragt er.
«Mehr oder weniger», sagt Ruth. «Es können natürlich auch ein paar Tierknochen dabei sein, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Schien- und Wadenbeine gesehen habe.»
«Wirst du sie rausholen?»
«Ich möchte das Skelett erst einmal vollständig freilegen», antwortet Ruth. «Weißt du noch, was ich dir bei der römischen Ausgrabungsstätte über Kontexte erzählt habe?»
Nelson richtet sich wieder auf. «Und woher wissen wir, dass das keine römischen Knochen sind?», fragt er. «Oder welche aus der gottverdammten Steinzeit, so wie die von neulich?»
Ruth beißt die Zähne zusammen. «Die waren aus der Eisenzeit.» Dann fährt sie ungerührt fort. «Wir können noch nichts mit Sicherheit
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