Knochenhaus (German Edition)
sagen, aber das Grab wirkt einigermaßen aktuell. Siehst du die Linien, die sich durch die Bodenschichten ziehen? Ich vermute, die Leiche wurde dort begraben, als die Mauern errichtet wurden.»
«Und wann war das?», fragt Nelson.
«Na ja, das Haus wirkt viktorianisch. Also vor etwa hundertfünfzig Jahren.»
«Das nennst du aktuell?»
«Was war denn früher hier auf dem Grundstück?», erkundigt sich Clough.
«Ein Kinderheim», antwortet Nelson knapp. «Unter der Leitung der Schwestern vom Heiligsten Herzen Jesu.»
Clough schnappt hörbar nach Luft.
«Was denn?», fragt Nelson gereizt.
«Na ja, das sind doch Nonnen, nicht?», sagt Clough. «Und wie die sind, weiß man ja. Wahrscheinlich haben sie das arme Kind da umgebracht.»
«Also, ich wüsste nicht, wie die sind.» Nelsons Miene verdüstert sich. «Und Sie, Sergeant, sollten lieber keine voreiligen Schlüsse ziehen.»
«Wir glauben, dass hier im Mittelalter ein Friedhof war», mischt sich Ted ein. «Deswegen graben wir ja überhaupt. Der Bezirksarchäologe hat darauf bestanden, dass wir Ausgrabungen machen, bevor das Gelände neu bebaut wird.»
«Edward Spens ist stinksauer», lässt sich Derek Andrews vernehmen. «Er sagt, Sie kosten ihn täglich mehrere tausend Pfund.»
«Die kriegen wir aber nicht zu sehen», bemerkt Trace verdrossen. «Hier verdient doch jeder Maurer mehr als wir.»
Nelson reagiert nicht auf den Einwurf und wendet sich wieder an Ruth. «Ist es möglich, dass die Knochen aus dem Mittelalter sind?»
«Möglich ist alles», sagt Ruth, «aber der Kontext sieht viel moderner aus. Natürlich kann es sich auch um mittelalterliche Knochen handeln, die erst relativ kürzlich begraben wurden. Aber das halte ich für unwahrscheinlich. Das Skelett macht einen intakten Eindruck, es muss also recht bald nach Eintritt des Todes beerdigt worden sein.»
«Na gut.» Nelson richtet sich entschlossen auf und klopft sich die Erde von der Hose. «Dann müssen wir das Grundstück eben so lange abriegeln, bis ihr mit euren Ermittlungen fertig seid.» Er hebt die Hand. «Und wie der verflixte Edward Spens darüber denkt, interessiert mich nicht. Hier ist jetzt die Polizei zuständig. Es war gut, dass du mich angerufen hast, Ruth, und nicht die Jungs hier vor Ort.»
Wie Ruth sehr wohl weiß, leitet Nelson die Abteilung für Schwerverbrechen bei der Kriminalpolizei und kann es überhaupt nicht leiden, wenn sich irgendwelche «Uniformen», wie er immer sagt, in die Ermittlungen einmischen. Es ist ihr fast schon peinlich, wie sehr sie sich über sein Lob freut. Nelson spricht weiterhin mit ihr, ohne Trace, die sich sichtlich übergangen fühlt, auch nur eines Blickes zu würdigen.
«Wie lang werdet ihr brauchen, Ruth?»
«Zwei, drei Tage mindestens. Wir müssen nachsehen, ob da noch mehr Knochen sind. Außerdem fehlt der Kopf.»
«Der Kopf?»
«Ja, anscheinend fehlt dem Skelett der Schädel. Möglicherweise wurde er woanders auf dem Grundstück beigesetzt.»
«Ist es ein Kind?», fragt Nelson. «Das Skelett?»
«Ich glaube schon. Wenn wir die Knochen genauer untersucht haben, wissen wir mehr. An Kinderknochen findet man Wachstumsknorpel, sogenannte Epiphysenfugen. Mit fortschreitendem Lebensalter verknöchern diese Knorpel und werden in den Hauptknochen integriert. Der Schädel …» Ruth unterbricht ihren Kurzvortrag, als sie Nelsons glasigen Blick bemerkt. « … wäre natürlich die beste Möglichkeit, das Alter zu bestimmen.»
«Wegen der Zähne?»
«Ja, und wegen der Wachstumsmuster.»
«Könnt ihr auch das Geschlecht bestimmen?»
«Wenn es das Skelett eines Kindes vor der Pubertät ist, ist das sehr schwierig. Neulich gab es in Sussex aber einen Fall, bei dem die Archäologen sogar das Geschlecht embryonaler Skelette über DNA-Analysen bestimmen konnten. Falls es sich um ein älteres Kind handelt, kann uns der Schädel auch darüber Auskunft geben.»
«Wieso?»
«Bei männlichen Jugendlichen sind die Überaugenwülste nach der Pubertät stärker ausgeprägt.»
Nelson grinst verhalten. «Du meinst, wir sind alle Neandertaler?»
«Der Neandertaler ist ausgestorben», sagt Ruth, «aber ja, so was in der Art.»
«Na, dann …» Nelson dreht sich zu Clough um. «Rufen wir mal die Jungs von der Spurensicherung.»
Derek Andrews macht bereits seit einer Weile den Eindruck, als stünde er kurz vorm Explodieren. Jetzt kann er nicht mehr an sich halten. «Und wie soll ich das bitte Mr. Spens erklären?»
«Sagen Sie ihm, wir ermitteln hier
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