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Knochenhaus (German Edition)

Knochenhaus (German Edition)

Titel: Knochenhaus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elly Griffiths
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unmittelbare Reaktion auf den Namen des Lehrstuhlinhabers? «Hier lang», sagt er dann.
    Er führt Ruth zum Haupteingang des Hauses. Davor steht einsam ein steinerner Torbogen, der imposant und fast ein wenig unwirklich aussieht. Als sie darunter hindurchgehen, liest Ruth die Inschrift, die in den Stein gehauen ist: Omnia Mutantur, Nihil Interit. Ruth war auf einer Gesamtschule, sie hat nie richtig Latein gelernt. ‹Omnia› heißt ‹alle› oder ‹alles›, wenn sie sich recht erinnert. ‹Mutantur› klingt nach ‹Mutation›, wird also vermutlich etwas wie ‹verwandeln› oder ‹verändern› heißen. Aber der Rest? ‹Nihil› klingt unangenehm endgültig, wie ‹Nihilismus›.
    Hinter dem Bogen führen breite Stufen hinauf zu einem eindrucksvollen Portikus: Säulen, Ziergiebel, das ganze Programm. Ruth durchquert den steinernen Vorbau – die Haustür wurde bereits entfernt –, und auf der anderen Seite erwartet sie ein trostloser Anblick. Das Innere des Hauses ist ganz und gar verschwunden, nur Schutt und verstreute Steine sind noch übrig. Hier und da steht noch ein Stück Treppe oder ein Türrahmen, was den irrealen Eindruck einer Theaterkulisse hinterlässt. An einigen Stellen entdeckt Ruth noch Tapetenreste an halb zerstörten Wänden und dazwischen, wie Treibgut, einzelne Möbelstücke: einen Aktenschrank, eine Keramikbadewanne, eine Kühlschranktür, an der noch die Magnete mit den lustigen Sprüchen haften: Ein Genie beherrscht das Chaos oder Teamwork ist Chefsache .
    «Die Bauarbeiten sind ja schon weit fortgeschritten», bemerkt sie.
    «Kann man wohl sagen.» Ted grinst ironisch. «Edward Spens hat es anscheinend eilig. Er findet es gar nicht toll, von Archäologen aufgehalten zu werden.»
    «Der Torbogen ist ziemlich eindrucksvoll.»
    «Der soll wohl auch stehen bleiben. Wird irgendwie in den Neubau integriert. Spens findet, das gibt der Anlage Klasse.»
    «Wissen Sie zufällig, was die Inschrift bedeutet?»
    «Was, ich? Ich war in Bolton auf der Schule. Passen Sie auf, wo Sie hintreten.»
    Gleich hinter dem Eingang geht es steil nach unten. Von der einstigen Diele ist nur noch ein schmaler, mit abgestoßenen und ausgebleichten schwarz-weißen Fliesen belegter Vorsprung übrig. Vor und direkt unterhalb der Türschwelle befindet sich ein Graben. Ruth erkennt die Handschrift der Archäologen auf den ersten Blick. Die Seitenwände sind schnurgerade, ein rot-weißer Messstab gibt Auskunft über die Tiefe. Unten im Graben steht eine junge Frau mit einem Bauhelm auf dem Kopf und schaut zu ihnen herauf.
    «Das ist Trace», sagt Ted, «eine unserer Feldarchäologinnen.»
    Ruth kennt Trace vom Sehen. Sie ist häufig an den sommerlichen Ausgrabungen beteiligt, außerdem arbeitet sie im Museum. Sie ist genau die Sorte Frau, neben der Ruth sich immer völlig unzulänglich vorkommt: gertenschlank, im ärmellosen Top, das ihre sehnigen Oberarme freilegt. Unter dem Helm quillt feuerrotes Haar hervor.
    «Wo sind die Knochen?», fragt Ruth.
    Trace deutet zum anderen Ende des Grabens hinüber.
    «Direkt unter der Türschwelle», sagt Ted und spricht damit Ruths Gedanken aus.
    Sie sieht den Grabstich sofort. Unter der steinernen Türschwelle, die noch nicht entfernt wurde, und einer dünnen Zementschicht ist der Boden aufgewühlt. Normalerweise könnte man dort eine Steinschicht und darunter eine Schicht Fundamentschutt erwarten, doch hier sind Sand, Steine und Erde ineinandergerührt wie ein Bauarbeitereintopf. Die Schichten wurden durcheinandergebracht, vor gar nicht allzu langer Zeit, und die Vertikale, die sich durch sie hindurchzieht, bezeichnet man als Grabstich. Zum ersten Mal wird Ruth die düstere Nebenbedeutung dieses Wortes bewusst. Dort, gleich unter dem in Unordnung gebrachten Boden, liegen die Knochen.
    Ruth kniet sich hin. Sie sieht auf den ersten Blick, dass es menschliche Knochen sind. «Haben Sie schon die Polizei benachrichtigt?», fragt sie. «Und den Gerichtsmediziner?»
    «Nein», antwortet Trace mürrisch. «Wir dachten, wir warten erst mal auf Sie.»
    «Und, was meinen Sie?» Ted schaut ihr über die Schulter.
    «Es sind Menschenknochen, allem Anschein nach von einem Kind. Das Alter ist schwer zu schätzen.» Bei frisch ausgegrabenen Knochen ist die Altersbestimmung meist recht einfach, doch je länger sie freiliegen, desto schwieriger wird es, das weiß Ruth aus leidvoller Erfahrung. Obwohl der Grabstich relativ neu wirkt, können die Knochen selbst doch jedes beliebige Alter zwischen

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