Knochenhaus (German Edition)
fest überzeugt ist sie auch, dass er bei seiner Frau bleiben wird. So wie Nelson bei seiner.
«Sei einfach ein bisschen vorsichtig», sagt sie.
«Wie meinst du das denn?» Shona wirft ihr Haar in den Nacken, das mindestens so hell durch die Dunkelheit leuchtet wie die Pechfackeln.
«Ich kenne Phil schon ziemlich lange. Er sagt einem immer das, was man seiner Meinung nach hören will.»
Shona funkelt sie wütend an. Sie scheint noch etwas sagen zu wollen, doch da kommt Max heran und fasst Ruth am Arm. «Wollen wir langsam gehen?», fragt er. «Es wird ein bisschen kühl hier draußen.»
Dankbar pflichtet Ruth ihm bei. Seit die Sonne untergegangen ist, hat sich die Luft tatsächlich empfindlich abgekühlt. Auch der Wind ist stärker geworden. Ruth zieht ihre Jacke enger um sich, doch die Druiden scheint die Kälte trotz ihrer dünnen Gewänder nicht zu stören. Ihre Kinder offensichtlich auch nicht. Als sie mit Max den Strand entlanggeht, hört Ruth sie im Dunkeln noch immer spielen. Sie haben ein tiefes Loch gegraben und singen: «Ringel-rangel-runnen, Mieze sitzt im Brunnen.»
«Manches ändert sich doch nie», sagt sie zu Max, als sie wieder auf den Pfad zwischen den Dünen einbiegen. Im Dunkeln ist es zu gefährlich, über das Salzmoor zu gehen, und so nehmen sie stattdessen den Pfad, der für die Vogelkundler vorgesehen ist, einen etwas erhöhten Kiesweg, der direkt zum Parkplatz führt. Dort hat Max seinen Wagen stehen. Ruth hofft, dass er sie nach Hause fahren wird, dann aber nicht erwartet, noch auf einen Kaffee hereingebeten zu werden.
«Eigentlich gar nicht uninteressant, dieser Kinderreim», sagt Max mit seiner Dozentenstimme. «Man deutet die Mieze gemeinhin als Prostituierte.»
«Und was passiert mit ihr? Wird sie ertränkt?»
«Vermutlich ist das eher eine Variante des Tauchstuhls.»
«Wie geht es noch gleich weiter? ‹Wer warf sie hinein? Das war Johnny Klein.›»
«‹Wer zog sie heraus? Das war Jimmy Kraus.› Oder so ähnlich.»
«Und wer ist dieser Jimmy? Ihr Zuhälter?»
Max lacht. «Du gefällst mir, Ruth.»
Darauf weiß Ruth nichts zu erwidern. «Du gefällst mir auch»? Das würde furchtbar kokett klingen. Und ein Themenwechsel käme einer Abfuhr gleich. Schließlich gefällt er ihr ja. Sie will gar nicht zu lange darüber nachdenken, wie sehr. Wenn das alles bloß nicht so schrecklich kompliziert wäre! Sie erwartet ein Baby von einem anderen Mann, der verheiratet ist und überdies keine Ahnung hat, dass sie schwanger ist. Vermutlich wird er ausflippen, wenn er es erfährt. Oder wäre es vielleicht, nur vielleicht, auch denkbar, dass er sich freut? In letzter Zeit hat Ruth sich immer wieder vorgestellt, dass das Baby ein Junge wird. Vielleicht hat Nelson sich ja immer einen Sohn gewünscht? Er wird begeistert sein, Michelle verlassen … Moment, Moment. Will sie denn überhaupt, dass er Michelle verlässt? Unterm Strich eigentlich nicht. Sie würde sich schreckliche Vorwürfe machen, die Familie zerstört zu haben, und außerdem weiß sie gar nicht recht, ob sie überhaupt je wieder mit einem Mann zusammenleben will. Vor allem nicht mit einem, der so viel Raum beansprucht wie Nelson.
Und überhaupt ist das alles Unsinn. Nelson liebt sie nicht und hat sie auch niemals geliebt. Ihre gemeinsame Nacht war das Ergebnis ganz besonderer Umstände. Sie hatten gerade die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden, und Nelson hatte den Eltern die Nachricht überbringen müssen. Danach war es für diese eine Nacht so gewesen, als gäbe es nur Ruth und Nelson auf der Welt. Er hatte Trost bei ihr gesucht – die plötzliche Leidenschaft hatte sie beide überrascht. Doch weder vorher noch danach hat Nelson Ruth in irgendeiner Form das Gefühl gegeben, dass er mehr in ihr sieht als eine Kollegin, Beraterin, vielleicht sogar Freundin. Warum also denkt sie jetzt an ihn, wo Max ihr die Hand hinhält, um ihr über einen Zauntritt zu helfen? Erinnert Max sie etwa an Nelson? Er ist ein völlig anderer Mensch, Akademiker, sanft und zuvorkommend, doch körperlich besteht tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit. Max hat ebenso viel Präsenz wie Nelson, und das liegt nicht nur an der Körpergröße. In seiner Anwesenheit hat man einfach kaum noch Augen für jemand anderen. Phil ist vorhin neben ihm komplett verschwunden, und selbst Cathbad wirkte um einiges blasser.
«Hörst du?», sagt Max unvermittelt. «Eine Eule.» Sie haben gerade den ersten Unterstand passiert. Diese hölzernen Hütten für
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