Knochenhaus (German Edition)
Imbolc-Fest am Strand des Salzmoors. Ein paar von Cathbads Kollegen haben sogar ihre Kinder dabei, die fröhlich im Sand herumtollen und sich gegenseitig anstacheln, über kleinere Wellen zu hopsen. Selbst das große Feuer, für das noch Treibholz und alte Kartons aufgeschichtet werden, wirkt eher wie eine Wohltätigkeitsaktion des Lehrer-und-Eltern-Ausschusses zugunsten einer neuen Schulhofausstattung als wie ein Opfer an alte heidnische Feuergottheiten.
Ruth und Max kommen mit ihren Gaben von Chips und Wein über das Salzmoor. Max ahnt nichts davon, doch sie gehen denselben Weg, den Ruth und Lucy in jener wilden Nacht im Februar genommen haben, als der Wind vom Meer heranheulte und das Moor in der Dunkelheit tückisch waberte. Manchmal kommt es Ruth so vor, als hätte jemand anders diese Nacht durchlebt; sie kann inzwischen oft so ruhig daran zurückdenken, als hätte sie in einem Buch davon gelesen. Und dann ist die Erinnerung plötzlich wieder so lebendig, als wäre es gestern passiert: die nächtliche Flucht über das Moor, der Moment, als sie sicher war, sterben zu müssen, die schwarze Welle, die plötzlich aus dem Nichts hereinbrach.
Doch jetzt ist der Himmel vom sanftesten Blau, und nur ein leichtes, freundliches Lüftchen streicht durch das struppige Gras. Ruth und Max folgen dem Pfad zwischen den Dünen hindurch, und dann erstreckt sich vor ihnen der Strand: der silberne Streifen Meer, die tiefen Tümpel, in denen sich der Abendhimmel spiegelt, die vielen, vielen Kilometer sanft wogenden Sandes.
«Wie schön», sagt Max. «Diese Weite von Norfolk hatte ich ganz vergessen. Nichts als Sand, Meer und Himmel.»
«Ja, es ist wunderschön», bestätigt Ruth und freut sich, dass Max ihr geliebtes Salzmoor gebührend zu schätzen weiß. «Im Winter kann es auch sehr trostlos sein, aber an Abenden wie diesem ist es für mich der schönste Ort der Welt.»
«Mir gefällt auch das Trostlose.» Max sieht den verebbenden Wellen nach. Die Möwen fliegen tief über dem Meer, die Rufe der Kinder verklingen dünn in der Abendluft.
Ruth mustert ihn aufmerksam. Sie weiß genau, was er meint. Manchmal versetzt sie das Salzmoor allein durch seine einsame Erhabenheit in eine fast schon erotische Erregung, aber sie hätte nie damit gerechnet, dass Max etwas Ähnliches empfindet. Kommt er nicht aus Brighton, dessen Strand eher von Sonnenhüten mit albernen Sprüchen darauf als von karger Schönheit dominiert wird? Dann ruft sie sich ins Gedächtnis, dass er immerhin in Norfolk aufgewachsen ist.
Sie nähern sich der Feuerstelle, die sich schwarz gegen den weißen Sand abhebt. Cathbad, im Druidengewand samt lila Umhang, überwacht das Aufschichten, doch als er Ruth entdeckt, kommt er mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
«Ruth!» Sie umarmen einander, und Ruth spürt Cathbads Bartstoppeln an der Wange.
«Cathbad, das ist Max, ein Bekannter.»
«Willkommen!» Cathbad umfasst Max’ Hand nach Pfarrermanier mit beiden Händen, und in seinem weißen Gewand hat er auch tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Priester, der die Gemeindemitglieder vor der Kirchentür begrüßt. Aus Cathbads Sicht ist das Salzmoor tatsächlich genau das: eine Kirche, geheiligter Boden. Seit Hunderten, sogar Tausenden von Jahren führen Menschen hier ihre kultischen Handlungen durch: Erst in der Bronzezeit, als sie den Henge errichteten, dann in der Eisenzeit, als die Menschen ihre Toten und ihre Schätze dort begruben, wo das Meer aufs Land trifft. Eine dieser Toten hat Ruth vergangenes Jahr hier gefunden.
«Freut mich, Sie kennenzulernen», sagt Max. «Das ist ja ein wundervoller Ort.»
«Stimmt», bestätigt Cathbad und mustert Max eingehend. «Es ist ein Schwellenort, eine Brücke zwischen Leben und Tod.»
«Erik Anderssen, 1998», sagt Max, ohne zu zögern. «Ich liebe dieses Buch. Während des Studiums gehörte Anderssen zu meinen ganz großen Helden.»
Ruth kann nicht an sich halten. «Du kanntest Erik?», ruft sie.
«Ich habe ihn leider nie persönlich kennengelernt, aber praktisch alles gelesen, was er geschrieben hat. Kein Mensch kannte sich so gut mit Frühgeschichte aus.»
«Er war ein großartiger Kerl», sagt Cathbad. «Ruth und er standen sich sehr nahe.»
«Tatsächlich?» Max sieht Ruth an.
«Na ja, ich habe bei ihm studiert», antwortet Ruth zurückhaltend. Über Erik zu reden fällt ihr immer noch schwer.
«Sie war seine Lieblingsstudentin.» Cathbads Ton klingt leicht aggressiv.
«Das ist ein bisschen
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