Knochenhaus (German Edition)
Vogelkundler befinden sich an strategischen Punkten im ganzen Moor; die erste steht auf Stelzen und schaut auf einen kleinen Süßwassersee hinaus. Ruth hört den Wind im Schilf flüstern und denkt zum hundertsten, vielleicht auch tausendsten Mal an jene stürmische Nacht auf dem Salzmoor, als der Ruf einer Eule einen Mann in den Tod gelockt hat. Ringsum ist nichts als Wasser, dunkel und trüb, von sumpfigen Inseln durchsetzt. Ruth fröstelt, und Max macht eine Bewegung, als wollte er ihr den Arm um die Schultern legen, besinnt sich dann aber. «Wir sind gleich da», sagt er.
Der Parkplatz ist stockdunkel, Max’ Range Rover der einzige Wagen weit und breit. Drinnen ist es angenehm warm, und Ruth kommen fast die Freudentränen, weil sie endlich wieder sitzen darf. Ob es normal ist, dass man in der Schwangerschaft solche Rückenschmerzen hat? Vielleicht liegt es ja an ihrem Übergewicht.
Max biegt auf die schmale Straße ab, die zu den Häusern am Rand des Moores führt. Er ist ein umsichtiger Fahrer – das immerhin unterscheidet ihn grundlegend von Nelson.
«Das war ja mal ein Erlebnis», sagt er. «Das Feuer, die Druiden und das alles.»
«Stimmt», sagt Ruth. «Ein Feuer ist doch immer wieder für ein Spektakel gut. Wahrscheinlich haben die Menschen es deshalb früher so verehrt. Feuer hält die Dunkelheit in Schach.»
«So wie das Krähen des Hahnes», sagt Max.
Ruth sieht ihn überrascht an. «Wie kommst du denn jetzt darauf?»
Einen Moment lang sieht Max starr geradeaus auf die dunkle Straße. Dann sagt er: «Gestern ist bei der Ausgrabung etwas Seltsames passiert. Ich hatte gerade ein paar Besucher verabschiedet. Diesmal war es der Geschichtsverein, wenn ich mich recht erinnere. Und als ich zurückkam, lag in einem Graben ein toter Hahn.»
Ruth weiß nicht recht, was sie sagen soll. Sie vermutet zwar, dass die umliegenden Höfe Geflügel halten, aber wie sich eines der Tiere ausgerechnet zu Max’ abgelegener Ausgrabungsstätte auf dem grasbewachsenen Hügel verirrt haben soll, kann sie sich auch nicht erklären.
«Hat ihn jemand absichtlich dorthin gelegt?»
Max lacht kurz auf. «Kann man so sagen. Man hatte ihm die Kehle durchgeschnitten.»
«Was?»
«Von einer Seite zur anderen. Sorgfältige Arbeit.»
Einen schrecklichen Augenblick lang fürchtet Ruth, dass ihr übel wird. Sie holt tief Luft.
«Wer tut denn so etwas?»
Inzwischen sind sie vor Ruths Häuschen angekommen. Max stellt den Motor ab. «Nun, der Hahn ist durchaus ein klassisches Opfertier. Weil er frühmorgens kräht, wird ihm die Macht zugeschrieben, die Dunkelheit zu vertreiben. Darum ist mir das auch gerade wieder eingefallen.»
Ruth schwirrt der Kopf. «Ein Opfer? Aber wer bringt denn an einer archäologischen Ausgrabungsstätte Opfer dar?»
«Das weiß ich auch nicht. Vielleicht jemand, der findet, wir stören die Ruhe der Toten.»
Ruth muss kurz an Cathbad denken, schüttelt dann aber den Kopf, um den Gedanken wieder zu vertreiben. Tote Tiere sind nicht Cathbads Stil.
«Natürlich», fährt Max fort, «hat der Hahn auch einen christlichen Bezug. Manchmal wird er als Symbol für Jesus verwendet. Von wegen Wiederauferstehung des neuen Tages.»
«Dann hat also jemand den Vogel als christliches Opfer getötet?»
Max’ Ton verändert sich ein wenig. «Oder als Opfer an Hekate.»
«Die Göttin der Zauberkunst?»
«Sie war als Göttin für vieles zuständig. Bei den Griechen galt sie als ‹Königin der Nacht›, weil sie bis in die Unterwelt hinabblicken konnte. Sie ist die Göttin der Kreuzungen, der drei Wege, deshalb zeigen die Darstellungen sie häufig auch drei Mal. Angeblich treibt sie sich oft in Begleitung ihrer Geisterhunde an Kreuzungen und Grenzen herum. Einer ihrer vielen Beinamen lautet Hekate Kourotrophos, Hekate, die Hebamme. Schwangere beten zu ihr, wenn sie in den Wehen liegen.»
«Und ihr wird traditionell ein Hahn geopfert?» Ruth gibt sich große Mühe, nicht allzu fassungslos zu klingen.
«Na ja, es war ein schwarzer Hahn, und traditionell opfert man der Hekate schwarze Tiere. Meist Hunde oder Welpen, wegen ihrer heiligen Hunde. Aber manchmal eben auch Vögel. Hin und wieder wird sie mit Athene assoziiert und mit einer Eule, dem Symbol der Weisheit, dargestellt.»
«Haben wir nicht eben eine Eule rufen hören?»
Max lächelt, und seine Zähne schimmern auffallend weiß in der Dunkelheit. «Vielleicht war das ja Hekate. Manchmal erscheint sie auf dem Moor und lässt ihr Geisterlicht leuchten, damit
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