Knochenhaus (German Edition)
zurück, der ganz offensichtlich von einem Tier stammt.
«Die Katze?» Ted schaut Ruth über die Schulter.
«Gut möglich.» Ruth muss kurz an Hekate denken und fragt sich, welche Farbe die Katze an der Gartenmauer wohl gehabt hat. Die Göttin der Zauberkunst. Hekate, die Hebamme.
Alle betrachten die beiden Schädel, die jetzt nebeneinander auf einer Plane ruhen. Ruth denkt an Kopfkulte, den heiligen Fremund, der seinen abgetrennten Kopf in einer Quelle wusch, und die Kinderleichen, die unter den Mauern von Tempeln begraben wurden. Nelson denkt an Martin und Elizabeth Black. Sind sie vielleicht gar nicht weggelaufen? Gehört dieser Schädel einem der beiden verschwundenen Kinder? Wurde es womöglich auf dem Grund und Boden des Kinderheims ermordet?
Schließlich bricht Ted das Schweigen. «Die kommen dann jetzt wohl in die Pathologie, was?»
«Der menschliche Schädel muss in die Obduktion mit einbezogen werden. Den Tierschädel nehme ich mit ins Labor.» Nelson sieht Ruth dabei zu, wie sie beide Schädel verpackt und beschriftet. Anschließend verstaut sie den menschlichen Schädel in einem speziellen Behälter mit der unheilvollen Aufschrift «Kriminalpathologie» und reicht ihn Nelson.
«Kommst du auch zur Obduktion?», fragt sie.
«Würd ich mir doch nie entgehen lassen.»
«Dann sehen wir uns ja dort.»
«Ich bringe dich noch zum Wagen.»
Unter den neugierigen Blicken der anderen gehen sie über das Grundstück bis zur Auffahrt, wo Ruth ihren Wagen im Schatten einer Eiche geparkt hat. Der Baum der Druiden, der Baum der heiligen Brigida. Im Licht der Mittagssonne wirkt er einfach nur grün und harmlos. Ruth öffnet den Kofferraum und legt die Schachtel mit dem Katzenschädel vorsichtig hinein. Nelson umrundet den staubigen Renault und drückt mit dem Fuß eine Radkappe fest, die sich gelöst hat.
«Wie lange brauchst du, um deine Tests durchzuführen?», fragt er.
«Ein paar Stunden. Die Proben von der Obduktion dauern sicher länger.»
Er scharrt ein bisschen mit den Füßen wie ein nervöses Pferd – typisch für ihn. Ruth weiß, dass Nelson nicht gut warten kann. Doch dann sagt er, den Blick immer noch zu Boden gerichtet: «Neulich hat Cathbad sich bei mir gemeldet.»
Ruth ist sofort hellwach. «Was wollte er denn?»
«Mich zu so einer schrägen Strandparty einladen, um irgendein heidnisches Fest zu feiern.»
«Aber du warst nicht dort?»
«Nein. Irgendwie fand ich, das ist nichts für mich. Und auch nicht für Michelle.» Er sieht ihr ins Gesicht.
Ruth wendet sich angelegentlich ab, um den Kofferraum zu schließen. «Da dürftest du recht haben.»
«Warst du da?»
«Ja.»
«Allein?»
Ruth starrt ihn an. Sie kann gar nicht glauben, dass er sie das gefragt hat. «Nein», sagt sie schließlich. «Mit einem Freund. Max Grey.»
«Und, war’s nett?»
«Ja, schon. Es gab ein Feuer, allen möglichen kultischen Singsang und schlechtes Essen. Du weißt ja, wie das ist.»
Nelson grinst unvermittelt. «Klingt wie eine Freimaurerversammlung.»
«Sag bloß, du bist Freimaurer?»
«Ich nicht. Aber Cloughie.»
Einen Moment lang sehen sie einander schweigend an, dann sagt Nelson mit gespieltem Schwung: «Genug geplaudert, wir haben schließlich nicht den ganzen Tag Zeit. Wir sehen uns nachher bei der Obduktion.»
Mit diesem herzerfrischenden Gruß wendet er sich ab. Er entfernt sich halb im Laufschritt und stößt fast mit Ted und dem Taucher zusammen, die offenbar auf dem Weg ins nächste Pub sind.
Ruth fährt mit dem Tierschädel ins Labor. Es ist kein Mensch mehr im Naturwissenschaftsgebäude. Im angrenzenden Park findet eine Party zum Abschluss des Studienjahres statt, es gibt ein Bierzelt und Live-Musik. Ruth hört die Bässe wie einen gewaltigen Herzschlag wummern, dazwischen hin und wieder bierseligen Beifall. Doch in den Seminarräumen und den Laboren ist alles still. Weder Cathbad noch die anderen Labortechniker sind zu sehen. Cathbad ist bestimmt auf der Party – er liebt Feste, ob sie nun heidnische oder andere Anlässe haben.
In Gesellschaft eines Plakats, das diverse Augenkrankheiten illustriert, und etlicher schweigsamer Knochen in Glasvitrinen packt Ruth den Tierschädel aus und macht sich daran, ihn mit einem weichen Pinsel zu reinigen. Der Form und der Größe nach ist sie ziemlich sicher, dass es sich um den Schädel einer Katze handelt. Die Halsknochen laufen stumpf aus, ein Indiz dafür, dass der Kopf gewaltsam abgetrennt wurde, vermutlich mit einer Axt. Als Ruth die
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