Knochenhaus (German Edition)
soll. Natürlich besteht immer die Möglichkeit zu arbeiten, doch die Sonne bescheint die Staubschicht auf dem Fensterbrett, und Ruth hat einfach keine Lust dazu. Etwas Bewegung wäre nicht schlecht, aber inzwischen hat sie auch keine Lust mehr auf das Schwimmbad, wo es doch nur nach Chlor und fremden Füßen riecht. Ein Spaziergang, das ist es. Ein kräftiger Marsch an der frischen Luft und anschließend ein Mittagessen im Pub.
Sie ist kurz davor, Shona anzurufen, die sich manchmal für einen Spaziergang begeistern lässt, wenn sie dafür mit Alkohol belohnt wird, doch dann zögert sie und überlegt, ob sie sich wirklich weitere Neuigkeiten über den Stand von Phils Ehe zumuten möchte. Außerdem wird Shona garantiert irgendwo in King’s Lynn essen wollen, wo sie sicher sein kann, extra natives Olivenöl und Ciabatta zu bekommen. Ruth ist mehr nach Hausmannskost zumute. Plötzlich steht ihr das Phoenix vor Augen: der Duft von brutzelndem Hähnchenfleisch auf dem Grill vor der Tür, der Blick über die Hügel, das Klirren der Gläser, das leise Stimmengewirr.
Und hat Max nicht erzählt, dass sie bei der Ausgrabung einige neue Entdeckungen gemacht hätten? Wenn Ruth jetzt nach Swaffham fährt, tut sie das nicht, um Max dort zu treffen, sondern um sich die Tonwaren und Münzen und die römischen Brettspielsteine anzusehen. Dagegen ist absolut nichts einzuwenden.
Sie greift nach ihrer Jacke.
«Vor 1960 …» Clough lässt den Blick großspurig durch den Raum schweifen. «… gehörte das Haus einem gewissen Christopher Spens.»
«Christopher …», wiederholt Nelson. «Aber doch nicht dieselbe Familie …?»
«Dieselbige.» Clough genießt die Situation sichtlich, obwohl es im Rückblick eine ziemlich gravierende Nachlässigkeit ist, das übersehen zu haben. «Der Vater von Roderick Spens und damit Großvater von Edward Spens.»
«Das dürfte erklären, weshalb ihm das Grundstück immer noch gehört», mischt sich Tanya eifrig ein. Clough wirft ihr einen finsteren Blick zu.
«Hat die Familie Spens denn auch selbst in dem Haus gelebt?», will Judy wissen.
«Sieht ganz so aus … ich habe hier die Volkszählungsergebnisse. Ja, genau. Volkszählung von 1951: Christopher Spens, Rosemary Spens und die Kinder Roderick und Annabelle.»
«Na dann.» Nelson steht auf. «Cloughie, Sie beschaffen mir alles, was Sie über die Familie Spens herausfinden. Judy, Tanya, Sie holen die Testergebnisse aus dem Labor. Und ich werde mich mal mit Edward Spens unterhalten.»
Auf der Fahrt nach Swaffham ist das Wetter weiterhin strahlend schön, doch als Ruth von der A47 abbiegt – nicht ohne vorher sorgfältig in den Rückspiegel geschaut und geblinkt zu haben –, ziehen mit einem Mal dunkle Wolken am Himmel auf. Als sie auf dem grasbewachsenen Areal vor dem Hügel hält, fallen bereits erste dicke Tropfen. Sie sieht die Studenten lachend den Hang hinabrennen, Jacken und Planen über dem Kopf. Die meisten verschwinden im Pub, ein paar drängeln sich in ihre klapprigen Autos und fahren in Abgaswolken gehüllt davon. Schon bald steht Ruths Wagen ganz allein am Fuß des Hügels.
«Ist das denn wirklich so wichtig, Harry? Das Wochenende ist bei mir eigentlich für die Familie reserviert.»
«O ja, es ist wichtig, Mr. Spens», antwortet Nelson grimmig und beschließt, sich alle einleitenden Nettigkeiten zu sparen. «Warum haben Sie mir nicht erzählt, dass Ihre Familie früher selbst an der Woolmarket Street gewohnt hat?»
Ein kurzes Zögern. «Ich bin davon ausgegangen, dass Sie das wissen.»
«Man sollte nie von irgendetwas ausgehen, Mr. Spens. Es ist Ihnen also allen Ernstes nicht eingefallen zu erwähnen, dass das Haus früher Ihr Familiensitz war, als wir die Leiche auf dem Grundstück entdeckt haben?»
«Ich habe selbst nie dort gewohnt. Haus und Grundstück wurden 1960 an die Diözese verpachtet.»
«Aber gehört hat es Ihnen trotzdem noch?»
«Sicher. Aber Sie haben sich doch nur für die Zeit interessiert, als das Kinderheim dort untergebracht war. In der Zeit hatte die Familie Spens nichts mit dem Haus zu schaffen.»
«Tja, jetzt interessieren wir uns eben für die Zeit der Familie Spens», gibt Nelson wie aus der Pistole geschossen zurück.
«Wie meinen Sie das?»
«Wir haben Belege dafür, dass es sich bei der Leiche um ein Kind handeln muss, das Anfang bis Mitte der fünfziger Jahre geboren wurde. Wann kann ich denn mal bei Ihnen vorbeikommen?»
Der Regen scheint ein wenig nachzulassen, und Ruth
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