Knochenhaus (German Edition)
beschließt, doch noch einen kurzen Spaziergang zu machen, weil ihr von der Autofahrt etwas schwummerig ist. Nur kurz bis zur Ausgrabungsstätte und wieder zurück. Sie steigt aus und setzt ihren gelben Südwester auf.
Der Aufstieg ist recht anstrengend, und Ruth hält den Blick auf das Gras gerichtet, um ihre Füße zum Weitergehen zu zwingen. Erst als sie oben angekommen ist und sich umschaut, merkt sie, dass der Himmel inzwischen ganz schwarz ist. Aus der Ferne hört sie erstes leises Donnergrollen.
Als sie sich dem Hauptgraben nähert, glaubt sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen. Sie fährt herum, doch da ist nichts; nur der Wind weht durch das struppige Gras. Trotzdem ist sich Ruth ganz sicher, etwas gesehen zu haben: einen schwarzen Umriss, der am äußersten Rand des Grabungsareals entlangpirscht. Wahrscheinlich nur ein Tier, doch aus irgendeinem Grund bringt sie das aus der Fassung. Sie hat Max’ Stimme im Ohr: Angeblich treibt sie sich oft in Begleitung ihrer Geisterhunde an Kreuzungen und Grenzen herum.
Sei nicht albern, ermahnt sie sich. Hekates Hunde werden dir hier wohl kaum auflauern. Wahrscheinlich war es nur ein Fuchs oder eine Katze. Trotzdem verspürt sie den unwiderstehlichen Drang, zum Wagen zurückzulaufen und die Ausgrabungsstätte so weit wie möglich hinter sich zu lassen. Nur der Gedanke, den Hügel dann ganz umsonst erklommen zu haben, hält sie davon ab. Sie wird sich kurz den Hauptgraben ansehen und dann wieder gehen. So kann sie sich zumindest sagen, dass sie etwas getan hat.
Am Himmel grummelt es erneut. Ruth zieht den Südwester tiefer in die Stirn und lässt sich in den Graben hinab.
Sie stolpert ein wenig und stürzt beinahe auf dem festgetretenen Boden. Da reißt über ihr plötzlich ein Blitz den Himmel entzwei, und Ruth kneift die Augen zu. Als sie sie wieder öffnet, liegt ein toter Säugling vor ihr.
20. Juni
Festtag des Summanus
Gestern Nacht hatte ich einen furchtbaren Traum: eine Frau mit dem Kopf einer Schlange, ein Mann mit zwei Gesichtern, ein Kind, das ins Feuer geschleudert wurde. Sein Fleisch schmolz dahin, als hätte man eine Plastikpuppe in die Flammen geworfen. Ich erwachte schweißgebadet und war zu verängstigt, um wieder einzuschlafen. So blieb ich wach, las Plinius und wartete auf das Anbrechen der Morgendämmerung. Weshalb werde ich nur so gequält? Ich habe die richtigen Opfer gebracht, und doch ist es, als zürnten mir die Götter.
Es ist wärmer geworden. Gestern hat Susan bei der Gartenarbeit die Ärmel hochgekrempelt. Ich sah ihre Arme, gesprenkelt wie zwei Hühnereier und von erstaunlich dichtem blondem Haar bedeckt. Natürlich musste ich sie tadeln. Ich bin schließlich Herr im Haus.
Ich bin müde. Manchmal will ich mich einfach nur hinlegen und schlafen und alles vergessen. Zu wissen, dass ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stöße endet … Hamlet, 3. Akt, erste Szene. Sterben – schlafen. Schlafen – vielleicht auch träumen!
Ja, da liegt’s.
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19
Ruth treibt in einem dunklen Meer. Toby ist irgendwo ganz in der Nähe, doch sie kann ihn weder sehen noch berühren. So seltsam es auch sein mag, plötzlich hat sie den Eindruck, ihn in- und auswendig zu kennen, all seine Hoffnungen und Ängste, seine Vorlieben und Abneigungen, als wäre er ein alter Freund und kein vier Monate alter Fötus. Sie weiß sogar, wie seine Stimme klingt. Es hört sich an, als wollte er sich verabschieden.
Dann ist sie am Strand, und eine Flut von Knochen schwappt an Land. Sie hört Eriks Stimme, er unterhält sich mit Toby. «Das ist der Kreislauf des Lebens. Man kommt zur Welt, man lebt, und schließlich stirbt man. Von Fleisch zu Holz zu Stein.»
«Aber er ist doch noch nicht einmal geboren», will Ruth aufschreien, doch sie muss mit dem Kopf unter Wasser geraten sein und kann weder sprechen noch hören, noch atmen.
Die Flut bringt sie zurück, doch nun ist sie wieder in dem Graben, und es ist viel zu dunkel, um etwas zu sehen. Sie weiß, dass jemand dort bei ihr ist, und dieser Jemand hat Böses im Sinn. Sie sieht eine Frau mit zwei schwarzen Hunden, eine Kreuzung, die gelben Augen einer Eule.
Dann hat sie wieder Max’ Stimme im Ohr: Sie war als Göttin für vieles zuständig. Bei den Griechen galt sie als ‹Königin der Nacht›, weil sie bis in die Unterwelt hinabblicken konnte … Sie ist die Göttin der Kreuzungen, der drei Wege … Einer ihrer vielen Beinamen lautet Hekate Kourotrophos, Hekate, die
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