Knochenhaus (German Edition)
Hebamme.
«Hekate!», ruft Ruth und zwingt den Atem aus ihren Lungen hinaus. «Rette mich!»
Da schwappt eine weitere Welle über sie hinweg, und alles wird schwarz.
Nelson ist auf dem Weg zu seiner Unterredung mit Edward Spens, als der Anruf kommt. Er lauscht aufmerksam, dann macht er mit quietschenden Reifen einen U-Turn, mitten auf der zweispurigen Schnellstraße, und schaltet das Martinshorn an.
Wieder ist sie im Meer, die Wellen werfen sie hin und her, drängen ihren Körper an die Felsen, hüllen sie in Dunkelheit. Hin und wieder sieht sie wie aus weiter Ferne Lichter, die im schwarzen Wasser hin und her huschen. Auch Stimmen hört sie, manchmal laut, manchmal gedämpfter. Ihre Mutter, Phil, Shona, Ted den Iren und die Schwester im Krankenhaus. Sind Sie allein?
Einmal hört sie auch Nelsons Stimme, laut und vernehmlich. «Wach auf, Ruth!», sagt er. Dabei muss er doch aufwachen, er muss fort, zurück nach Hause, bevor seine Frau etwas merkt. Sie können nie wieder zusammenkommen. Danke. Wofür denn? Dass du da warst.
Zwei Kinder heben am Strand einen Brunnen aus und singen dazu «Ringel-rangel-runnen, Mieze sitzt im Brunnen». Flint taucht vor ihr auf, überlebensgroß, er leckt sich die Schnurrhaare. Dann Sparky, sie trägt ein Halsband aus Blut. In einem Käfig singt ein kopfloser Vogel. Sonnenlicht glitzert auf den Münzen, die in den Wunschbrunnen geworfen wurden. Wer den Penny nicht ehrt … Ringel-rangel-runnen, Mieze sitzt im Brunnen .
Erik rudert mit ihr zurück ans Ufer und beschreibt ein Wikingerbegräbnis: «Das Schiff, die Segel gebläht im Abendlicht. Und der Tote, das Schwert neben sich, den Schild auf der Brust.» Das Ruderboot tanzt auf den Wellen. «Hab keine Angst», sagt Erik zu ihr, «deine Zeit ist noch nicht gekommen.» Kein Mensch hält den Lauf der Zeiten auf. Die Gezeiten tragen sie durch ihr ganzes Leben: Eltham, die Schule, das University College in London, Southampton, Norfolk, das Salzmoor, das tote Kind inmitten des Henge-Rings. Cathbad mit hocherhobener Fackel. Göttin Brigid, nimm dies Opfer von uns entgegen!
Dann schleudert eine weitere Welle sie aus dem Wasser heraus und lässt sie wie gestrandet zurück, keuchend und zitternd, im Tageslicht. Als sie die Augen öffnet, sieht sie Max, Nelson und Cathbad, die auf sie herabschauen.
Sie schließt die Augen wieder.
Nelson rast wie ein Wahnsinniger zum Krankenhaus. «Ruth ist verletzt», hat Cathbad am Telefon gesagt. «Womöglich verliert sie das Baby.»
Das Baby. Er macht sich keine Gedanken darüber, woher Cathbad davon weiß und was er eigentlich genau weiß. Er fragt sich nicht einmal, warum ihn ausgerechnet Cathbad anruft, warum ausgerechnet er jetzt bei Ruth ist. Er kann nur daran denken, dass Ruths Schwangerschaft, die bisher nur eine Vermutung war, Realität geworden ist. Und dass das Baby, das sie gerade verliert, von ihm sein könnte. Er tritt das Gaspedal noch weiter durch.
Im Krankenhaus findet er nicht nur Cathbad vor, in voller Montur inklusive Umhang, sondern auch den Klugscheißer aus Sussex, Max Dingenskirchen. Die beiden stehen mit hilfloser Miene im Wartebereich vor einer Reihe festgeschraubter Stühle und einem Tisch mit uralten Ausgaben der Hello! .
«Was ist hier los?», bellt Nelson und schaltet direkt auf Polizeimodus.
«Sie wird gerade untersucht.» Cathbad legt Nelson beruhigend eine Hand auf den Arm, die er gereizt abschüttelt.
«Ich will mit dem Arzt reden.»
«Später. Die Ärztin ist gerade mit Ruth beschäftigt.»
Frustriert dreht sich Nelson zu Max um, der ihn verlegen und mit sichtlichem Unbehagen mustert.
«Was ist passiert?»
«Ich habe sie an der Ausgrabungsstätte gefunden.» Passend zu Nelsons Polizistenton hört Max sich an wie ein Tatverdächtiger. «Als der Wolkenbruch vorbei war, wollte ich oben nach dem Rechten sehen, und da lag sie bewusstlos im Graben.»
«War sonst noch jemand dort?»
«Anfangs nicht, aber während ich sie noch … ansah … ist Cathbad aufgetaucht.»
«Einfach so aufgetaucht, ja?», knurrt Nelson mit einem Seitenblick auf Cathbad. «Hast wohl doch magische Kräfte, was?»
Cathbad setzt eine bescheidene Miene auf. «Ich war rein zufällig dort. Ich wollte mich ein wenig umsehen. Du weißt doch, dass ich mich für Archäologie interessiere.»
«Und da warst du also rein zufällig dort oben, als Ruth ohnmächtig geworden ist?»
«Ich muss kurz nach Max gekommen sein. Sein Wagen stand schon unten am Hang.»
«Was war denn nun mit Ruth? Warum
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