Knochenhaus (German Edition)
Sommerloch, wo es sowieso an anderen Nachrichten mangelt. Wenn er nicht aufpasst, wird er als vertrottelter Inspektor der Norfolk-Bullentruppe monatelang die Schlagzeilen beherrschen.
Er seufzt. Aus dem Wohnzimmer dringt die Titelmelodie von Sex and the City herauf. Immerhin kommt er so nicht in Versuchung, nach unten zu gehen. Seine Frau und seine Töchter sind süchtig nach der Serie, die allabendlich auf dem Kabelsender ausgestrahlt wird. In Nelsons Augen ist das nichts als reiner, ungefilterter Schweinkram, in Tateinheit mit den bizarrsten Frauenklamotten, die er je zu Gesicht bekommen hat. «Das ist Mode, Dad», hat Rebecca ihm erklärt. Wenn das Mode sein soll, wieso läuft dann hier auf der Straße kein Mensch so rum? Vielleicht ist es ja nur in Amerika Mode. Abgesehen von einem Besuch in Disneyland, der eigentlich nicht zählt, war Nelson noch nie in Amerika und hat auch kein Bedürfnis danach. Anders als die meisten seiner Kollegen hegt er keine geheimen FBI-Phantasien, in denen Knarren, schnelle Autos und unfassbar glamouröse Kulissen vorkommen. Das Leben als Polizist ist in Amerika bestimmt genauso wie anderswo: zehn Prozent Aufregung und neunzig Prozent lähmende Langeweile.
«Dad!», schallt es aus dem Wohnzimmer. «Dein Handy klingelt!» Grummelnd macht sich Nelson auf den Weg in die Diele, wo das Handy in seiner Jackentasche dudelt. Und natürlich hört es genau in dem Moment auf, als er es herauszieht. «Ein verpasster Anruf von Ruth» steht auf dem Display. Nelson drückt die Rückruftaste.
«Hallo, Ruth. Was gibt’s?»
Sie klingt distanziert, und trotzdem hört er ihrer Stimme an, dass ihr irgendein Durchbruch gelungen sein muss.
«Gerade hat mich Debbie Lewis angerufen. Die forensische Zahnspezialistin, von der ich dir erzählt habe.»
«Mannomann, das ist ja sicher ein ganz toller Job.»
«Es ist ein faszinierender Bereich. Jedenfalls hat sie ein paar interessante Ergebnisse für uns. Sie sagt, sie hat Spuren von Zinnfluorid in den Zähnen gefunden.»
«Aha?»
«Zinnfluorid fand erstmals 1949 in einer Testreihe der Zahnpastamarke Crest Verwendung. Dann hat sich herausgestellt, dass es bei längerer Anwendung die Zähne verfärbt, weshalb man 1955 auf Natriummonofluorphosphat umgestiegen ist.»
«Ja, und?» Nelson brummt bereits der Kopf.
«Der Schädel muss also von einem Kind stammen, das vor 1955 schon auf der Welt war. Wann ist das Mädchen geboren? Das kleine Mädchen aus dem Kinderheim?»
«Elizabeth Black?» Nelson wühlt in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch, obwohl er die Antwort natürlich bereits kennt.
«1968», sagt er dann.
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18
Am nächsten Morgen beruft Nelson eine außerplanmäßige Teamsitzung ein. Samstags zu arbeiten bedeutet Überstunden, was Whitcliffe gar nicht schmecken wird; doch auch er weiß, wie wichtig es ist, mit dem Fall möglichst weit voranzukommen, ehe die Presse etwas davon mitkriegt. Nelson befindet sich in einem Zustand hektischer Betriebsamkeit, als er aufs Revier kommt. Er springt die Treppe hinauf, reißt die Tür zur Einsatzzentrale auf und das Foto von Pater Hennessey von der Pinnwand und bellt: «So, der Pfaffe ist raus aus dem Spiel. Sonst noch Ideen?»
Die Wirkung verpufft einigermaßen, weil nur Judy und Clough im Zimmer sind. Clough verputzt gerade einen Frühstücksburger von McDonald’s, Judy blättert in der Daily Mail .
«Wie war das?», fragt Clough, knüllt das Einwickelpapier zusammen und wirft es in den Papierkorb.
«Der Pfaffe.» Nelson legt das Foto auf den Besprechungstisch, und Pater Hennesseys blaue Augen blicken gleichgültig zu ihm auf. «Er ist unschuldig. Ruth Galloway hat an unserem Schädel Spuren einer Fluorverbindung gefunden, die nur bis 1955 im Umlauf war. Elizabeth Black ist aber erst 1968 geboren.»
«Fluorverbindung?» Clough versteht immer noch nur Bahnhof.
«In den Zähnen. Anscheinend gibt es ein bestimmtes Fluorid, das nur zwischen 1949 und 1955 verwendet wurde. Das ist also der Zeitraum, mit dem wir es hier zu tun haben.»
«Tun die nicht auch Fluor ins Trinkwasser?», fragt Clough.
«Hier in Norfolk nicht.» Judy faltet ihre Zeitung zusammen. «Unser Wasser enthält von Natur aus genug Fluor. Da braucht man nichts zuzusetzen.»
«Hier geht es sowieso um was ganz anderes. Der Stoff heißt Zinnfluorid. Wird heute anscheinend nicht mehr verwendet, weil er die Zähne verfärbt. Und wenn doch, kommt er nur in einer ganz speziellen Marke vor.»
«Dann war’s unser Heiliger
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