Knochenhaus (German Edition)
Begegnung mit Nelson und Michelle ist ganz gut gelaufen. Natürlich war es ein Schock, als Michelle sie so direkt nach dem Baby gefragt hat, aber bald wird es sowieso alle Welt sehen. Und komischerweise hat Ruth sogar Lust, mit Michelle Babysachen einkaufen zu gehen. Sie ist furchtbar schlecht im Einkaufen, das gehört zu den weiblichen Ritualen, die sie nie recht beherrscht hat. Andere Frauen verschwinden für eine halbe Stunde in einer Boutique und kommen mit einem ganzen Stapel geschmackvoller Kleider in der richtigen Größe, den passenden Accessoires und dem perfekten Paar Schuhe wieder heraus. Ruth hingegen kann ganze Tage in der Stadt verbringen und hat am Ende doch nur ein T-Shirt vorzuweisen, das eigentlich zwei Nummern zu klein ist.
Außerdem braucht sie dringend eine Freundin. Eine andere Frau, die nicht ablehnend oder neidisch reagiert, sondern selbst Kinder hat und bereit ist, ihr mit Ratschlägen und Aufmunterungen zur Seite zu stehen. Dumm nur, dass die einzige Frau, die diese Kriterien erfüllt, ausgerechnet mit dem Vater ihres Kindes verheiratet ist und wahrscheinlich kein Wort mehr mit Ruth reden würde, wenn sie die Wahrheit wüsste.
Seufzend biegt sie auf die Straße zum Salzmoor ab. Die Lichter, der Lärm und die Farben des Theaters sind plötzlich kilometerweit weg. Hier ist es dunkel und still. In der Ferne hört sie das Meer rauschen. Seltsam, wie viel Lärm es nachts macht. Wahrscheinlich hat die Flut bereits eingesetzt. Auf ihrem Höhepunkt bedeckt das Wasser das gesamte Salzmoor und macht erst vor dem Binnensumpf halt, nur wenige hundert Meter von Ruths Haustür entfernt. In manchen Nächten scheint es geradezu unglaublich, dass das Wasser sie nicht ganz verschlingt und ihr kleines Haus auf den Wellen hüpfen lässt wie die Arche Noah. Ruth weiß aus eigener Erfahrung, dass man das Meer niemals unterschätzen darf.
Vor ihr huscht ein Tier über die Straße, die Augen schimmern glasig im Scheinwerferlicht. Eine Katze vielleicht oder ein Fuchs. Hoffentlich war es nicht Flint. Als Ruth vor ihrem Haus hält, springt die Sicherheitsbeleuchtung an und taucht alles in theatralisch helles Licht. Vielleicht sollte sie jetzt aus dem Wagen springen und einen Monolog über Janus halten. Doch anders als beispielsweise Shona wollte Ruth nie Schauspielerin werden. Vorlesungen halten ist ja gut und schön, aber nicht damit zu vergleichen, auf einer Bühne Gefühlsausbrüche zu inszenieren. Sie öffnet die Tasche und kramt nach ihrem Schlüssel. Seit ihre Mutter ihr diesen Handtaschen-Organizer geschenkt hat, findet sie gar nichts mehr. Der Rücken tut ihr schon wieder schrecklich weh. Sie sehnt sich danach, sich mit einer schönen Tasse Tee und einem dicken Schinkenbrot aufs Sofa zu kuscheln.
Da ist er ja endlich. Ruth zieht den Hausschlüssel mit dem schwarzen Katzen-Schlüsselanhänger, den sie von ihren Neffen geschenkt bekommen hat, aus der Tasche. Doch dann hält sie inne. Das Licht brennt noch immer, und das Meer brandet nach wie vor in der Ferne ans Ufer. Doch jetzt ist ein weiteres Geräusch dazugekommen, ganz leise, aber doch unverkennbar. Atemzüge.
Hektisch schiebt Ruth den Schlüssel ins Schloss und stürzt ins Haus. Drinnen macht sie alle Lichter an und schließt die Tür zweimal ab. Die Sicherheitsbeleuchtung schaltet sich wieder aus, draußen herrscht undurchdringliche Dunkelheit. Zitternd schaltet Ruth das Licht im Haus wieder aus, um aus dem Fenster nach draußen schauen zu können. Doch obwohl sie das Gesicht dicht an die Scheibe drückt, sieht sie gar nichts. Nur Schwärze.
Sie zuckt zusammen, als Flint ihr um die Beine streicht, doch dann krault sie den Kater und beruhigt sich wieder ein wenig. Ruhig bleiben, ruft sie sich selbst zur Ordnung, das war doch nichts. Bestimmt nur ein Fuchs oder irgendein anderes Tier. Doch im Grunde ist sie überzeugt, dass die regelmäßigen, schweren Atemzüge von einem Menschen stammten. Einem Menschen, der jetzt noch dort draußen steht und ihr auflauert. Ob es dieselbe Person ist, die ihr das Plastikbaby vor die Füße gelegt, den Hahn getötet und Ruths Namen mit Blut an die Mauer geschrieben hat? Was würde sie wohl sehen, wenn sie jetzt die Haustür öffnete? Die Göttin Hekate persönlich, flankiert von ihren beiden Geisterhunden, das Mondlicht weiß auf den ausgemergelten Zügen? Oder aber ein nur allzu menschliches Wesen, den Mörder, der ein kleines Mädchen getötet und seinen Kopf in den Brunnenschacht geworfen hat? Den Mörder, der es
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