Knochenhaus (German Edition)
Roderick Spens leidet an einem frühen Stadium seniler Demenz», fährt Nelson fort, «seine Wahrnehmung ist also etwas getrübt. Er erinnert sich sehr genau an seinen Vater, gerät aber in Panik, wenn die Rede auf seine Schwester kommt. Laut Sterbeurkunde ist Annabelle Spens mit sechs Jahren an Scharlach gestorben. Sie starb zu Hause und wurde auf dem Friedhof von St. Peter und Paul beigesetzt.»
Wieder mustert er seine Leute und fragt sich, ob ihnen wohl klar ist, was genau das heißt. Judy sicher, aber Clough ist manchmal etwas schwer von Begriff. Und natürlich ist es Tanya, die sich zu Wort meldet. «Kann es also sein, dass unser Skelett unter der Türschwelle Annabelle ist?»
«Das weiß ich nicht genau, aber ich glaube, wir müssen diese Möglichkeit in Betracht ziehen.»
«Aber sie ist doch auf dem Friedhof begraben.» Clough klingt fast entrüstet.
«Schon klar, aber wenn sie den Sarg in der Nacht vor der Beisetzung zu Hause hatten, dürfte es nicht weiter schwierig gewesen sein, die Leiche rauszuholen und den Deckel anschließend wieder festzuschrauben.»
«Aber warum sollte man denn so was machen?»
«Das weiß ich auch nicht», gibt Nelson gereizt zurück, «darum will ich es ja herausfinden.»
«Mit Hilfe der Zahnanalyse?», fragt Tanya.
«Ja. Darum könnten Sie sich kümmern, Tanya. Der Schädel, den wir im Brunnen gefunden haben, hat eine Füllung in einem Zahn. Ziemlich ungewöhnlich bei einem Kind in dem Alter, da findet man sicher schnell eine Entsprechung. Außerdem werde ich prüfen lassen, ob es eine DNA-Entsprechung zwischen Sir Roderick und dem toten kleinen Mädchen gibt.»
«Und was ist, wenn keine Zahnarztunterlagen mehr vorliegen?», fragt Judy.
«Dann lasse ich sie eben exhumieren», antwortet Nelson grimmig.
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22
Alles in allem fühlt sich Nelson nicht gerade in der richtigen Verfassung, am Abend eine experimentelle Inszenierung im Little Theatre anzuschauen – aber wann ist er für so etwas schon je in der richtigen Verfassung? Außerdem hat er es Michelle versprochen, und so kann nicht einmal die Mitteilung, dass der Autor des Stücks diese Witzfigur Leo vom Mittelalterabend ist, seinem Entschluss, ein guter Ehemann zu sein, einen Dämpfer verpassen.
«Worum geht’s überhaupt?», fragt er, während sie auf der Suche nach einer Parklücke durch die Straßen kurven. Das Little Theatre befindet sich im neu erbauten Arts Centre am Hafen, und die Gegend ist dermaßen hip, dass nirgends mehr Großbuchstaben verwendet werden, was es nicht gerade leichter macht, die Hinweisschilder zu entziffern.
Michelle liest aus dem Faltblatt vor, das dieser Leo ihr ganz frech mit der Post geschickt hat.
« Der Gott mit den zwei Gesichtern. Erzählt aus der Perspektive des Janus, des römischen Gottes von Anfang und Ende, setzt sich das Stück mit Öffnungen auseinander, mit Türen, Spalten und Körperöffnungen. Die Handlung erstreckt sich von der Zeit der alten Römer über die industrielle und die sexuelle Revolution, um schließlich auf einer Weltraumstation in ferner Zukunft ihr Ende zu finden.»
«Körperöffnungen?», brummt Nelson. «Ach du Schande.»
«Ach, Harry, sei doch nicht immer so schrecklich prüde.» Michelle kontrolliert ihr Make-up im Beifahrerspiegel. «In modernen Theaterstücken geht es immer um Sex.»
Ist er tatsächlich prüde? Während er Michelles Golf in die Parklücke zwängt, die ein Moped gerade vor ihnen freigemacht hat, denkt Nelson über diesen Vorwurf nach. Es stimmt schon, er kann nur selten über Cloughies schweinische Witze lachen und findet, dass Sex and the City an Pornographie grenzt (allein schon die Schuhe!). Trotzdem steht er mit beiden Beinen im Leben, und gegen Sex am richtigen Ort – er will jetzt nicht weiter darüber nachdenken, wo genau dieser Ort wäre – ist absolut nichts einzuwenden. Er hat einfach nur keine Lust, sich anzuhören, wie irgendein spilleriger Schauspielschüler sich stundenlang über Körperflüssigkeiten auslässt. Das ist doch eigentlich nicht so abwegig.
«Ich bin nicht prüde», sagt er schließlich. «Aber alles zu seiner Zeit, am richtigen Ort.»
Michelle bedenkt ihn mit einem Blick unter langen Wimpern hervor. «Der Ansicht warst du aber auch nicht immer. Weißt du noch, damals, in der Geisterbahn am Pier von Blackpool?»
Nelson grunzt. «Da waren wir auch noch jung und leichtsinnig.» Trotzdem legt er auf dem kurzen Fußweg zum Theater den Arm um sie.
Im Foyer drängt sich eine
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