Knochenjagd (German Edition)
Umzug nach North Carolina mit acht Jahren. Dorothy bevölkert meine frühesten Kindheitserinnerungen.
Dorothys jüngere Schwester Barbara hatte CdLS . Auf alten Fotos ist Barbara immer bei uns Nachbarskindern zu sehen, ob in einem Weihnachtspullover mit zu langen Ärmeln oder verkleidet als Little Bo Peep für Halloween. Immer hat sie ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht, die Scham wegen ihres komischen Aussehens und ihrer schiefen, weit vorstehenden Zähne noch in weiter Ferne.
Von der schlechten Blondierung und den schlechten Manieren abgesehen, hätte Barbara Herrmann der Zwilling von Aurora Devereaux sein können. Hätte sie überlebt.
Ich war an der Uni, als ich von Barbaras Selbstmord erfuhr. Dorothy und ich waren in Kontakt geblieben, doch da ich viel zu sehr in meiner egozentrischen Teenagerwelt versunken war, hatte ich Dorothys Andeutungen über die immer stärker werdenden Depressionen ihrer Schwester einfach nicht verstanden. Oder ich hatte sie bewusst ignoriert, weil ich mein rosiges Leben behalten wollte. Barbara war glücklich, sie lächelte immer. Alles war in bester Ordnung.
Hätte ich etwas tun sollen? Hätten Besuche, Brief, Anrufe Barbaras Tod vielleicht verhindert? Natürlich nicht. Das hatte nicht einmal ihre eigene Familie geschafft. Dennoch verfolgt mich meine Tatenlosigkeit immer noch.
Devereaux saß mit ihren winzigen Händen auf den angezogenen Knien da. Nach der Länge von Oberkörper und Beinen schätzte ich ihre Größe auf etwa die einer Mittelschülerin.
Wie Barbara Herrmann haben manche CdLS -Patienten verminderte intellektuelle Fähigkeiten. Ausgehend von dem Wortwechsel mit Ollie bezweifelte ich, dass das bei Devereaux der Fall war.
»Wir kommen jetzt rein.« Ollie klang nicht mehr ganz so nach knallharter Bulle. Seinem Gesicht konnte ich ablesen, dass auch er schockiert war. So wie Ryan, der seine Reaktion allerdings besser versteckte.
Devereaux sah schweigend zu, wie wir drei hintereinander den Raum betraten und der kaputten Lampe auswichen, die auf einem Fliesenrechteck vor der Tür lag.
Das Zimmer war gut drei mal drei Meter groß. Neben der Bettcouch gab es einen Holztisch, zwei Stühle mit Armlehnen, eine Kommode und Regale, die mit einem Durcheinander aus Kleidungsstücken, Handtaschen, Toilettenartikeln und Magazinen vollgestopft waren. Der an die Wand montierte Fernseher hätte auch in einem Krankenhauszimmer hängen können.
Auf der rechten Seite befand sich eine Küchenzeile mit einem zu kleinen Kühlschrank, einem Spülbecken und einem Herd. Der Boden war genauso gefliest wie der Eingangsbereich, Wohn-und Schlafbereich dagegen mit Teppich ausgelegt. Im Spülbecken und auf der kleinen Arbeitsfläche türmten sich schmutziges Geschirr, Küchenutensilien, offene Konservendosen und Reste von Fast-Food-Mahlzeiten.
Von der Küchenzeile aus führte ein kurzer Gang zu einem Wandschrank und einem Bad. Beide Türen standen offen, beide Deckenlampen brannten. Bad und Kammer sahen aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen: Kleidungsstücke, Bettwäsche, Make-up, Schmutzwäsche und eine Menge undefinierbares Zeug lagen auf dem Boden herum oder hingen an Armaturen, Türknäufen, Handtuchhaltern, im Schrank und an der Duschstange.
Ollie nahm einen glänzenden, grünen Morgenmantel von einem Stuhl und warf ihn aufs Bett. Devereaux ignorierte ihn.
»Foxy ist gar nicht glücklich«, sagte Ollie.
»Ist die Schlampe nie.«
»Sie sagt, Sie hätten gestern eine ausgelassene Nacht gehabt.«
Devereaux hob eine Hand und eine nackte Schulter. Na und?
»Foxy will Sie raushaben.«
»Foxy will so einiges.«
»Haben Sie einen Mietvertrag?«
»Klar. Hab ihn zusammen mit meinen Bausparverträgen in einem Bankschließfach.«
»Dann haben Sie kein Recht, hier zu bleiben.«
Devereaux sagte nichts.
»Das war’s, Aurora.« Ollie klang beinahe mitleidig.
Devereaux schnappte sich eine kleine Plastikflasche vom Nachtkästchen. Sie hob das Kinn und zog Antihistamin zuerst ins eine, dann ins andere Nasenloch.
Ohne den geräuschvollen Vorgang zu beobachten, schaute ich mich noch einmal genauer um. In der gesamten Wohnung gab es nichts Persönliches. Keine Fotos, keine Kühlschrankmagneten, keine Souvenirs oder Makramee-Pflanzenhänger.
Neben dem Antihistamin sah ich auf dem Nachtkästchen eine halb leere Flasche Säurehemmer und einen Haufen zusammengeknüllter Papiertaschentücher. Ich erinnerte mich an ein weiteres Symptom von CdLS – Sodbrennen, das die Nahrungsaufnahme unangenehm
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