Knochenjagd (German Edition)
Auswuchs in etwa eineinhalb Metern Höhe am Stamm. Links davon stand eine kleinere, asymmetrische Kiefer, an der jeder zweite Ast abgestorben aussah.
Als ich überzeugt war, dass ich die Stelle wiederfinden würde, rannte ich los.
26
Ryan trug nur Jeans, als er die Tür öffnete. Seine Haare waren zerzaust, aber er wirkte hellwach.
»Was soll der Lärm?« Ryan sah meine nassen Haare und die Kiefernadeln an meiner Kleidung. Sein Grinsen verschwand. »Was ist denn –«
»Ruben ist tot.« Ich war außer Atem vom Rennen. Zitterte. Kämpfte mit den Tränen.
»Was?«
»Sie ist kein Monster, Ryan. Sie ist zurückgeblieben. O Gott. ›Zurückgeblieben‹ darf man ja eigentlich gar nicht mehr sagen. Wie sagt man jetzt? ›Behindert‹? Welches Wort benutzt man jetzt?«
Der Schock, Ruben endlich in die Augen geschaut zu haben. Miterleben zu müssen, wie sie erschossen wurde. Die Erleichterung, wieder im Hotel zu sein. Ich plapperte, konnte nicht anders.
»Sie wusste wahrscheinlich überhaupt nie, dass sie schwanger war. Wusste wahrscheinlich nicht einmal, was schwanger bedeutet. Wusste nicht, warum ihr Bauch noch dicker wurde.«
Die Tränen flossen einfach. Ich wischte sie nicht einmal weg.
»Ich habe den Schützen nicht gesehen.«
»Jetzt mal langsam.« Ryan verstand nicht. Oder konnte vor lauter Flennen nicht hören, was ich sagte.
»Zwei Schüsse. Der in den Kopf hat sie vermutlich getötet.« Laut. Zu laut.
Ryan zog mich in sein Zimmer. Schloss die Tür. Holte eine winzige Flasche Johnnie Walker aus seiner Minibar und gab sie mir. »Trink das.«
»Ich darf nicht. Das weißt du.«
Er schraubte den Deckel ab und streckte mir die Flasche entgegen. »Trink.«
Ich tat es.
Das vertraute Feuer brannte mir die Kehle hinab. Ich schloss die Augen. Die Hitze breitete sich vom Bauch in die Brust und in den Kopf aus. Das Zittern ließ nach.
Ich hob die Lider. Ryan musterte mein Gesicht. »Besser?«
»Ja.« Mein Gott. Das war es wirklich.
»Also«, sagte Ryan. »Noch mal von vorne.«
»Ruben ist tot. Ihre Leiche liegt im Wald hinter dem Hotel.«
»Tabarnac!«
»Der Hund ist weggelaufen.«
»Der Hund?«
»Tank. Der kleine –«
»Vergiss den Hund! Erzähl mir, was passiert ist.«
»Ruben hat mich gegen Mitternacht angerufen. Und gesagt, sie wolle mich sehen.«
»Woher hatte sie deine Nummer?«
»Wahrscheinlich von Snook.«
Ryan fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Das hieß, er war nicht glücklich.
»Ruben hat gesagt, ich soll alleine kommen.«
»Mein Gott, Ryan. Wenn sie gesagt hätte, du sollst dir den rechten Busen abschneiden, dann hättest du das auch getan, was?«
»Entweder moi allein oder gar nicht.« Ich war immer noch völlig aufgelöst, und Ryans Reaktion ärgerte mich maßlos.
Ryan starrte mich einfach nur an.
»Ich habe dich angerufen. Kann doch nichts dafür, dass die Verbindung miserabel war.«
»Du hast dich mitten in der Nacht mit ihr im Wald getroffen.«
»Ja.«
»Du hattest kein Recht dazu, alleine loszuziehen.« Die Wikingerblauen kochten vor Wut.
»Ich bin schon ein großes Mädchen«, blaffte ich.
»Du hättest dabei umkommen können.«
»Ich lebe noch.«
»Aber Ruben nicht mehr!«
Der Satz war wie ein Schlag ins Gesicht.
Ich schaute weg. Er sollte nicht sehen, dass ich verletzt war. Vor allem aber sollte er mein Schuldbewusstsein nicht sehen. Denn tief drinnen spürte ich, dass er recht hatte.
»So habe ich das nicht gemeint.« Ryan klang jetzt sanfter.
»Ruf die Kollegen«, sagte ich knapp.
Ryan ging zum Nachtkästchen, nahm sein Handy und wählte. Er redete mit dem Rücken zu mir. Danach holte er ein Sweatshirt aus seinem Koffer und zog es sich über den Kopf. Die statische Aufladung machte seine Frisur nicht besser.
»Und?«, fragte ich.
»Sie schicken einen Streifenwagen.«
»Du solltest es Ollie sagen.«
Ryan wählte noch einmal, sagte ein paar Sätze, schaltete wieder ab.
»Was hat er gesagt?«
»Das willst du nicht wissen.«
Ryan atmete tief durch. Dann sagte er etwas, das meine Wut in Luft auflöste.
»Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen. Aber manchmal handelst du mit dem Herzen, nicht mit dem Kopf. Ich habe Angst, dass du eines Tages dafür bezahlen musst. Ich könnte es nicht aushalten, wenn dir was passieren würde.«
Ich bemühte mich um eine ausdruckslose Miene.
»Es war nicht deine Schuld, Tempe.«
Doch, dachte ich. Das war es.
Der Streifenwagen wurde von Zeb Chalker gefahren. Kein Transporter der Spurensicherung. Kein
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