Knochenjagd (German Edition)
hatte er ins Schwarze getroffen. Ich gab es allerdings nicht zu.
»Wir wissen beide, dass Castain Ruben jetzt aufs Abstellgleis geschoben, vielleicht sogar komplett von der Bühne gejagt hat.«
Normalerweise machte ich mich über Ryans Metaphernmix lustig. Jetzt nicht.
»Diese ganze Sache ist einfach zu verdammt frustrierend.« Ich ging zum Aufzug.
»Wir finden sie.«
Ich drehte mich um.
»Aber jetzt sollten wir uns nur auf uns selber verlassen«, sagte er.
»Und auf Holzkopf.«
»Und auf Holzkopf.«
Ein Waffenstillstand. Oder so etwas Ähnliches.
Als ich dann in meinem Zimmer war, gab ich meinem iPhone noch mal eine Chance. Zu meiner Überraschung gab es ein mattes Flackern von sich. In der Hoffnung, dass die wichtigen Teile einfach nur noch komplett austrocknen mussten, steckte ich es zum Laden ein.
Über Festnetz rief ich bei meiner nicht erreichbaren Tochter an. Sie blieb nicht erreichbar. Ich hinterließ ihr noch eine Nachricht.
Nach einer schnellen Toilette fiel ich erschöpft ins Bett. Aber mein Hirn wollte noch nicht abschalten. Ich dachte über Arty Castain nach. Wer hatte ihn ermordet? Warum? War es wirklich Unka gewesen, oder eher ein strategischer Schachzug Scarboroughs? War Castains Tod nur der erste in einem bevorstehenden Blutbad? Welche Geheimnisse hatte Castain mit ins Grab genommen?
Wo war Tom Unka? Ronnie Scarborough?
Was hatte Scarborough gemeint, als er sagte, Ollie hätte keinen Schimmer in Bezug auf Annaliese Ruben? War Scar mehr gewesen als ihr Zuhälter? Wusste er Sachen, an die wir noch nicht einmal gedacht hatten?
Ryan hatte recht. Die Beamten vor Ort würden sich auf den Mord an Castain und die nun wohl ausbrechende Fehde über das Drogenrevier konzentrieren. Aber ich konnte nicht einfach aufhören, mir über Ruben den Kopf zu zerbrechen. Die Frau hatte vier Babys ermordet.
Diverse Personen hatten Ruben als nicht sehr intelligent beschrieben. Scarborough. Forex. Tyne. Wie hatte sie sich der Verhaftung so lange entziehen können? Wie hatte sie es von Saint-Hyacinthe nach Edmonton und nach Yellowknife geschafft? Wusste sie überhaupt, dass die Polizei sie suchte? Mit Sicherheit. Aber machte sie sich mehr Sorgen wegen Scar?
Hatte Scar Ruben geholfen? Oder Nellie Snook? Versteckte Ruben sich in dem Haus an der Ragged Ass? Oder war sie woanders hingegangen? Zu einem Halbgeschwister, von dem wir nichts wussten? Zu einem Polizeibeamten von hier, der vielleicht ein Cousin oder sonst ein Verwandter war?
Rubens Vater war Farley McLeod. Ihre Mutter war Micah Lee. Micah war Dené. Erstreckte sich Rubens Familiennetzwerk bis hin zu Orten, die Außenstehenden nicht zugänglich waren?
Und was war mit Horace Tyne? Tyne hatte mit Rubens Vater gearbeitet, war mindestens dreißig Jahre älter als sie. War seine Beziehung zu Ruben wirklich eine rein väterliche gewesen?
Und so ging es immer im Kreis. Bilder. Spekulationen. Fragen. Vor allem Fragen.
Ich war schon beinahe eingeschlafen, als das Festnetz klingelte. Da ich dachte, dass es Katy war, griff ich zum Hörer. Mein Blick fiel auf den Wecker. 23 Uhr 45.
»Ist dort Temperance Brennan?« Weich. Kindlich.
»Ja.«
»Ich muss Sie sehen.« Leichter Akzent. Aber nicht wie Binny.
»Wer spricht?«
Die Antwort jagte meinen Puls in die Stratosphäre.
25
»Ich bin im Wald.«
»In welchem Wald?«
»Hinter dem Hotel.«
»Okay.«
»Kommen Sie allein.«
»Aber ich –«
»Wenn jemand bei Ihnen ist, gehe ich wieder.«
»Ich bin in zehn Minuten dort.«
»In fünf.«
Klick.
Ich schoss aus dem Bett. Zog die Sachen an, die ich auf einen Stuhl geworfen hatte. Schnappte meine Jacke. Steckte eine Taschenlampe, den Zimmerschlüssel und aus reiner Gewohnheit mein Handy in die Tasche. Rannte zur Tür hinaus.
Vibrierend vor Adrenalin ließ ich den Aufzug links liegen, rannte die Treppe hinunter und durch die Lobby. Eigentlich musste das Hotel einen Hinterausgang haben, doch da ich nicht wusste, wo der lag, ging ich auf Nummer sicher und stürzte zum Haupteingang hinaus.
Die Nacht war kalt, aber nicht kalt genug für Schnee. Ein leichter Regen machte das Gras unter meinen Sohlen rutschig.
Während ich um das Gebäude herumlief, überlegte ich, was dieser Anruf alles bedeuten konnte. Hatte Ruben keine Lust mehr, davonzulaufen? Wollte sie sich stellen? Oder war das eine Falle, um mich abzuschütteln?
Mich umzubringen?
Bei diesem Gedanken blieb ich abrupt stehen.
War Ruben gefährlich? Sie hatte ihre Kinder getötet, aber war sie eine Gefahr
Weitere Kostenlose Bücher