Knochenkälte
schätze ich, und gegen Tollwut geimpft.
Miss Mercer sagt gerade, wir sollen unsere Geschichtsbücher rausholen, aber ich kann nur auf das Gesicht am Schwarzen Brett starren.
Ray Dyson. Das Foto könnte aus der Verbrecherkartei stammen. Raid ist hier berühmt-berüchtigt, ein legendärer Kleinkrimineller und Loser. Die dunklen, kleinen Pitbull-Augen starren unter seinen Höhlenmenschenbrauen hervor, Wangen und Stirn sind mit Aknepusteln übersät. Fettige Haarsträhnen hängen ihm in die Augen. Der Typ hat eindeutig mehr Muskeln als Gehirnzellen und ist deswegen schon ein paarmal sitzen geblieben, sonst wäre er längst in unserer Klasse.
Ich stelle mir vor, wie er aus dem Krankenhaus abgehauen ist und jetzt im Fieberwahn über die verschneiten Felder hetzt. Bei den Minustemperaturen wird er in seinem dünnen Krankenhaushemdchen nicht lange überleben. Fast tut er mir leid. Aber er gehört wohl zu der Sorte von vermissten Personen, die keiner so richtig vermisst.
Ich hoffe trotzdem, dass er irgendwo Unterschlupf gefunden hat. Keine gute Idee, bei Nacht hier draußen unterwegs zu sein.
»Kann ich dir was verraten?« Howie arbeitet an seinem dritten Donut.
Wir essen zu Mittag in Tim Hortons Imbiss. Ist die einzige Alternative zu den Tischen, die in der Turnhalle aufgebaut werden. Die Schule ist zu klein für eine echte Cafeteria. Also gehen wir an den meisten Tagen die drei Straßen bis zum Imbiss und holen uns ein Sandwich oder eine Suppe. Oder in Howies Fall eher Donuts und Cola.
»Klar«, sage ich und würge mein Frikadellen-Jumbosandwich runter. »Worum geht’s?«
»Ich weiß nicht, ob das was zu bedeuten hat...«
»Ist einen Versuch wert.«
Er schaut sich um, ob auch niemand zuhört. Ash ist auf dem Klo, Pike vorne an der Kasse.
Howie nippt an seiner Cola. »An dem Tag, an dem Ray Dyson ausgetickt ist... Ich hab ihn auf der Toilette getroffen. Ich bin gerade am Pinkeln, da höre ich diese Stimme. Flüsternd. Ich dachte, ich wäre allein im Klo, deswegen bin ich so erschrocken, dass ich mir auf den Schuh gepisst hab. Schätze mal, so genau wolltest du’s gar nicht wissen, was?«
»Nicht wirklich.«
»Jedenfalls - ich pinkel also fertig und schau nach. Da ist nur eine einzige Kabinentür abgeschlossen. Und drunter sind Raids Schuhe zu sehen. Erst hab ich gar nicht verstanden, was er da sagt, also bin ich näher ran. Er flüsterte: ›Es schläft. Es schläft.‹«
»Was schläft?«, frage ich.
»Keine Ahnung. Ich kann dir nur sagen, was er da so brabbelte. ›Ich dachte, ich wäre davongekommen‹, sagt er. ›Dachte, ich hätt’s geschafft. Aber es wollte nur, dass ich das denke.‹« Howie zieht die Augenbrauen hoch. »Mittlerweile war ich sicher, dass mich jemand verarschen will. Mir weiße Mäuse einreden oder so. Ich wusste ja noch nicht, wer das wirklich ist. Aber jeder hier weiß, wie schreckhaft ich bin.«
Schreckhaft ist echt milde ausgedrückt. Howie ist die personifizierte Panikattacke auf Abruf.
»›Alles klar bei dir?‹, frage ich durch die Tür. Er antwortet nicht, sondern sagt stattdessen: ›Wenn es aufwacht, kommt es mich holen.‹ Das hat mich echt fertiggemacht. Und da geht plötzlich die Tür auf, und ich sehe, wer es ist. Ich war letztes
Jahr in derselben Klasse wie Raid. Bevor ich ein Jahr übersprungen hab, war ich eins seiner Lieblingsopfer.«
Howie hat schon zwei Klassen übersprungen, deswegen geht er jetzt in die Zwölfte wie sein Bruder. Howie hat so viel Grips, dass er einem Angst macht.
»Ich war mir sicher, dass Raid mir einen Streich spielen will. Aber er sah einfach scheiße aus. So richtig... blau . Nicht betrunken, sondern echt blau, als käme er gerade aus der Tiefkühltruhe. Also sage ich: ›Vielleicht solltest du nach Hause gehen. Du siehst nicht gerade aus wie das blühende Leben.‹ Aber er hört und sieht mich nicht, sondern murmelt ständig nur: ›Es schläft. Schläft.‹« Howie isst kopfschüttelnd seinen Donut auf.
»Was?«, sage ich. »Das war’s schon?«
»So ungefähr. Ich wusste nicht, was ich machen soll. Ich hab ein paarmal seinen Namen gerufen, um ihn aufzuwecken, ihn irgendwie rauszuholen aus dem Zustand. Aber er ist einfach rausmarschiert. Hab nur noch gehört, wie er sagte: ›Gibt nirgendwo ein Versteck. Nirgendwo.‹«
Pike stellt sein Tablett auf dem Tisch ab. »Wer findet kein Versteck? Wovon redet ihr?«
»Von Ray Dyson, dem Durchgeknallten«, sage ich. »Du weißt schon, der da auf dem Baseballfeld gestanden
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