Knochenkälte
dachten, das hieße Rohes-Fleisch-Fresser. Dabei heißt es das nicht mal, aber das dachten die eben alle. Würde es dir etwa gefallen, Rohes-Fleisch-Fresser genannt zu werden?«
»Eher nicht. Viele Dates würde ich da wohl nicht mehr klarmachen.«
So ist Dad, wenn er seine irische Seite rauskehrt. Ich bin mit Geschichten aufgewachsen, in denen die Iren in der alten Heimat wie der letzte Dreck behandelt wurden. Als ich klein war, hatte Dad eine gerahmte Postkarte an der Wand, auf der war ein Schild abgebildet, wie es früher vor englischen Pubs stand: KEINE HUNDE. KEINE NIGGER. KEINE IREN. Die Iren waren der absolute Abschaum, die Unterdrücktesten der Unterdrückten. Deswegen setzt Dad sich immer so für andere unterdrückte Minderheiten ein.
»Sie selber nennen sich Inuit«, fährt er fort. »Das heißt einfach ›Menschen‹.«
Ich gähne. Die Leafs verlieren beim Hockey. Schon wieder! Der Fluch hört wohl nie auf.
»Na dann. Dieser Mensch haut sich jetzt jedenfalls aufs Ohr«, sage ich. »Muss ja morgen ganz früh raus. Gute Nacht, Sklaventreiber.«
Ich geh den Flur runter zu meinem Zimmer.
»Nacht, Danny Boy.«
So nennt er mich, wenn er müde ist, ein bisschen traurig oder ein bisschen betrunken. Der Name stammt aus einem alten irischen Lied, in dem eine Mutter ihren Sohn nach Hause ruft, der schon lange weit weg ist. Sie ruft ihren Danny Boy. So würde Dad mich nie nennen, wenn er nicht schon drei Bier
intus hätte. Meinen Vornamen hat nämlich Mom ausgesucht. Sie war’s auch, die mir das Lied vorgesungen hat, als ich klein war. Es bringt mich um, wenn er mich so nennt.
Mein Zimmer ist eins der Gästezimmer, die der Besitzer des Jachthafens im Sommer an Touristen vermietet. Offenbar war derjenige, der es eingerichtet hatte, ein echter Fisch-Fetischist. Gerahmte Fotos, die hinter ihrer Glasscheibe vergilben, zeigen preisgekrönte Angelerfolge früherer Jahre. Typen, die Forellen, Barsche oder Karpfen hochhalten. Für mich gibt’s Fisch nur in Stäbchenform, totgemanscht und eingefroren.
Über dem Bett hängt ein uraltes Bild von ein paar Leuten, die auf dem zugefrorenen See Eis herausschneiden. Vor einem Jahrhundert war mit dem Eis von Lake Simcoe ein gutes Geschäft zu machen. Bevor der Kühlschrank erfunden wurde, konnte man ja nur natürliches Eis verwenden. Das Eis vom See hier war als hundertprozentig sauber eingestuft worden und wurde per Eisenbahn quer durchs ganze Land gekarrt. Auf dem Foto sind ein paar Pferde, die auf dem Eis einen langen Schaber hinter sich herziehen, um die Oberfläche zu glätten, damit danach die Eisblöcke rausgeschnitten werden können. Harvest Cove, die Erntebucht, heißt so, weil in dieser Bucht Eis geerntet wurde.
Ich schmeiße Frankenstein auf den kleinen Schreibtisch, der am Fenster steht. Da liegt auch mein Handy neben der Lampe. Ich hab mir die Schnappschüsse von den Spuren jetzt schon hundertmal angeschaut und werde immer noch nicht schlau draus. Ich hab schon überlegt, ob ich sie Howie mailen soll, und dazu einen kleinen Text: Guck mal, was ich entdeckt hab, was hältst du davon?
Howie ist das reinste wandelnde Lexikon. Sein Zimmer sieht aus wie ein Museum. Seine Bibliothek ist umfangreicher als die der Schule, und er hat alle möglichen Tierknochen, Vogelfedern, Steine, Muscheln und in Gläsern eingelegte »Exponate«, die er alle hier in der Gegend gesammelt hat.
Ein verrückter Wissenschaftler in der Werdung.
Aber dann schicke ich die Fotos doch nicht ab. Die ganze irre Geschichte da im Straßengraben ist in meinem Kopf noch immer in vielen kleinen Bruchstücken abgespeichert. Ich kann einfach nicht glauben, dass es passiert sein soll. Mann, ich wünschte, ich hätte die Spuren nie gefunden. Dann könnte ich das Ganze als eine von einer Gehirnerschütterung ausgelöste Halluzination abtun.
War schon schlimm genug, die Spuren zu finden. Wenn ich sie jetzt auch noch Howie zeige, wird das Ganze irgendwie real. Morgen, sage ich mir. Morgen zeige ich sie Howie. Ich knipse das Licht aus und krieche ins Bett.
Irgendwie ziehen wir jedes Mal weiter, kaum dass ich mich an ein neues Bett gewöhnt hab. Das hier hat auf der linken Seite eine kaputte Feder, die mir die ganze Nacht in die Rippen sticht. Also kugle ich mich auf der rechten Seite zusammen und zwinge das Kissen mit ein paar Fausthieben zur Unterwerfung, bevor ich den Kopf drauflege. Der Heizkörper stößt gedämpfte Flüsterlaute aus - die Luft, die sich durch die Rohre schiebt.
Ich denke an mein
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